Die letzten Stunden in der 28er-WG

Heute um Mitternacht ist es vorbei – Großbritannien ist dann kein Mitglied der EU mehr. Die Hälfte der Briten wird die Korken knallen lassen, die andere Hälfte ihren Frust mit Ale herunterspülen.

Tragisch - um Mitternacht ziehen die Briten aus der 28er-WG aus. Foto: (c) Europa.eu / 2020

(KL) – Eines Tages werden sich die Historiker fragen, was zwischen 2016 und 2020 im damals noch Vereinten Königreich passiert ist, dass dieses Land, ohne jede Notwendigkeit, freiwillig den Gang in die politische und wirtschaftliche Isolation gegangen ist und nebenher auch noch die Einheit des Königreichs aufgelöst hat. Zu diesem Zeitpunkt wird ein souveränes Schottland vermutlich Mitglied in der EU sein und es vielleicht sogar ein vereintes Irland geben. Bevor sich unsere britischen Freunde nun endgültig in ein paar Stunden von Europa verabschieden, sollte man die Verantwortlichen noch einmal beim Namen nennen, denn der „Brexit“ ist nicht etwa ein gottgegebenes Naturereignis, sondern das Ergebnis innenpolitischer Machenschaften, Manipulationen, Lügen und des Betrugs am britischen Volk. Und an Europa.

2016 stand der damalige britische Regierungschef, der Konservative David Cameron, unter Druck. Um seine Position zu retten und dem Druck der nationalistischen Strömungen bei den Tories auszuweichen, kündigte er eine Volksabstimmung über den Verbleib Großbritanniens in der EU an. Diese Volksabstimmung hatte keinerlei rechtliche Verbindlichkeit, wurde aber später von den britischen Nationalisten als „rechtlich nicht bindend, politisch aber verpflichtend“ bezeichnet. Ein juristisches Unding, das seltsamerweise alle Anfechtungen vor britischen Gerichten überstehen sollte.

Vermutlich hatte Cameron, der selbst nach eigenen Angaben kein Befürworter des „Brexit“ war, gehofft, dass die Briten nicht so blöd wären, sich von Europa abkoppeln zu wollen. Das waren sie aber, denn Politiker wie Nigel Farage hatten wüste Lügen in die Welt gesetzt, wie paradiesisch es doch in Großbritannien zugehen würde, wenn man nur das „Brüsseler Joch“ abwerfen würde. An dieser Volksabstimmung war nichts korrekt – so wurden beispielsweise die rund drei Millionen im Ausland lebenden Briten von der Abstimmung ausgeschlossen (weil diese wohl zu 90 % für den Verbleib in der EU gestimmt hätten). Mit deren Stimmen wäre die Volksabstimmung von 2016 genau andersherum ausgegangen… Am Morgen nach der Volksabstimmung saß ein grinsender Nigel Farage im britischen Frühstücksfernsehen und räumte seine Lügen im Vorfeld der Volksabstimmung ein. Haha. Sehr komisch.

Dann passierte erst einmal eine Weile gar nichts. Das britische Unterhaus war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als sich Gedanken darüber zu machen, was man eigentlich nach einem „Brexit“ anstellen wollte und wie dieser „Brexit“ zu organisieren sei. Endlose, blutleere Debatten und keinerlei Ergebnisse, Ideen oder Vorschläge an die EU.

Die Zeit verstrich und es passierte immer noch nichts. David Cameron warf das Handtuch und Europa musste lernen, dass Margret Thatcher nicht die schlimmste Regierungschefin war, die je das Vereinte Königreich gemanagt hatte – Camerons Nachfolgerin Theresa May war die Fleischwerdung der politischen Peinlichkeit. Ihr Gegenspieler der Labor Party, Jeremy „Catwheezle“ Corbyn war allerdings kein bisschen besser – schnell wurde klar, dass der Oppositionsführer weder eine Meinung zum Brexit hatte, noch das politische Verständnis aufbrachte, dass er sich an die Spitze der Brexit-Gegner hätte stellen müssen, um sich seinen Lebenstraum zu erfüllen: Kalif anstelle des Kalifen zu werden. Diese vier, David Cameron, Nigel Farage, Theresa May und Jeremy Corbyn waren es, die Großbritannien auf die schiefe Ebene zerrten. Doch diese vier, man glaubt es kaum, waren immer noch nicht das Schlimmste, was den Briten passieren konnte.

Auftritt Boris Johnson. Es war schon unglaublich, dass dieser notorische Lügner und Politclown zuvor bereits zum Bürgermeister von London gewählt worden war. Bereits in seiner Zeit als Brüsseler Korrespondent einer britischen Tageszeitung war er durch das Erfinden von Meldungen bekannt geworden – und womit kein vernünftiger Mensch rechnen konnte, das passierte. Die konservativen Tories wählten ihn in einer parteiinternen Abstimmung zum Nachfolger von Theresa May als Parteichef und damit automatisch zum neuen Premierminister. Rund 90.000 ältere Damen und Herren, Parteimitglieder der Tories, bestimmten damit das Schicksal von 60 Millionen Briten. Die Demokratie Großbritanniens starb vor den Augen der ganzen Welt einen langsamen Tod.

Millionen Briten demonstrierten gegen den „Brexit“, den 90.000 halbvergreiste Tories beschlossen hatten. Eine zweite Volksabstimmung, zu einem Zeitpunkt, zu dem den Briten klar wurde, was da auf sie zukam, lehnte Boris Johnson ab. Zu undemokratisch.

Es begann ein zähes Hickhack zwischen Boris Johnson, seiner jämmerlich schwachen Opposition und der EU, vertreten durch den brillanten Michel Barnier als Verhandlungsführer, es folgte der Ausschluss des britischen Parlaments, es folgte nach einem bühnenreifen Spektakel die Auflösung des Parlaments und die Organisation von Neuwahlen am 12. Dezember 2019. Uff, dachte man in Europa, das ist fast so gut wie ein zweites Referendum, die Briten können ihren blöden Fehler korrigieren.

Pustekuchen. Am 12. Dezember bestätigten die Briten ihren Politclown als Regierungschef und damit auch den Brexit, der das einzige wirkliche Wahlversprechen des Trump-Doubles war.

Zur Geisterstunde ist es nun heute soweit – Großbritannien zieht aus der 28er-WG aus. Ende der Geschichte? Nein – denn die meisten wichtigen Punkte sind noch nicht geklärt, das soll bis zum Jahresende geschehen. Und den Briten selbst steht noch ein Riesenproblem ins Haus: Die Schotten drängen auf ein weiteres Unabhängigkeits-Referendum. Ein entsprechender Text wurde vorgestern im schottischen Parlament mit klarer Mehrheit beschlossen.

Heute um Mitternacht beginnt das Auseinanderbrechen des Vereinten Königreichs. Und in ein paar Jahren werden sich die Briten fragen, was sie da nur mit ihrem Land angestellt haben. Doch dann wird es zu spät sein. Die Geschichte dreht sich unbarmherzig weiter und das, was weder Wikinger, Dänen, Angeln, Sachsen, Normannen oder Nazis geschafft haben, das wird Boris Johnson liefern – das Ende des Vereinten Königreichs. Und tschüss.

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