Die Maske fällt: Ich bin der Letzte
Arme Mimen! Da mussten sie mit ihrem #allesdichtmachen erfahren, dass Ironie es schwer hat in schweren Zeiten und der Zynismus dabei umso schneller um die Ecke biegt, je schwerer die Zeiten sind. Ist halt so, wenn man sich an einer Selbst-Priosierung versucht…

(Michael Magercord) – Impfen? Hinten anstellen und nicht vordrängeln! Logo, mach’ ich nicht. Ich weiß doch, wohin ich gehöre. Laut Priorisierung werde ich nun einmal der Letzte sein. Aber ehrlich, das macht nichts, der bin ich nämlich sowieso.
Beim Impfen geht es nun einmal zu wie im richtigen Leben. Auch darin gibt es klare Reihenfolgen. Da geht’s nach Schönheit. Oder Geschlecht, jedenfalls als es noch unbeschwert „Ladies first“ hieß. Oder schlicht nach Geld. Und siehe: auch nach diesen Maßstäben bin ich der Letzte.
Diese Reihungen gelten natürlich nicht offiziell, während beim Impfen jetzt ganz objektive Maßstäbe zählen. Zu denen gehören weder Schönheit noch Geld, und so sind Alte, Schwache und Systemrelevante lange vor den Stubenhockern dran – was nun so manchen von denen, die jetzt ebenfalls in Stuben hocken müssen, an ihrem Selbstwert verzweifeln lässt und zu ironischen Klagen über die Verhältnisse treibt. Dabei sollten doch gerade sie dankbar dafür sein, endlich wieder an die wahren Verhältnisse erinnert zu werden. Menschen bilden nun einmal Reihenfolgen, in denen einem jeden von ihnen seine Wertigkeit zuzumessen wird. Das mag so manchen kränken, ist sich doch jeder selbst der Wertigste.
In einer Gesellschaft gilt das natürlich nicht, nicht einmal in einer Pandemie. Ist ja ziemlich wirklichkeitsfremd zu meinen, dem Staat wären einfach jeder seiner Bürger gleich viel wert. Seine wertvollsten Glieder zuerst, und so wurden, als Coronatests noch Mangelware waren, natürlich zuerst die Teuersten der Teuersten durchgetestet: unsere Bundesligaprofis. Die hätten ja – Gott bewahre! – ihren Wert verloren, wenn sie nicht spielen. Armin Falk, Wirtschaftsprofessor und Direktor des briq-Instituts für Verhalten und Ungleichheit, hat es uns im Deutschlandfunk vorgerechnet: Es geht um die Frage, was ist das Leben wert, das wir retten gegenüber den ökonomischen, aber auch den sozialen und – Achtung! – psychologischen Kosten. Und bitte, wenn Sie das jetzt zynisch finden, versetzen Sie sich für einen Moment in die zarte Seele eines kurzbehosten Jungmillionärs – na also, geht doch…
Reiche Leute sind nun einmal mehr wert als Arme. Das gilt sowohl innerhalb einer Gesellschaft als auch global, also zwischen den Gesellschaften. Klar, so zwischen Mensch und Virus sind theoretisch und wissenschaftlich alle gleich. Aber genau das ist der Grund für die strenge Reihenfolge: Corona wird nämlich nicht zuletzt auch deshalb von Staat und Gesellschaft so ernst genommen, weil auch die von ihm betroffen sind, die sonst eher nicht von ökonomischen, sozialen und psychologischen Gefahren berührt werden. Professor Falk zählt sie auf: Politiker, Wirtschaftslenker, kurz: Entscheidungsträger.
Und die müssen natürlich knallhart rechnen: Wenn die wirtschaftlichen Einbußen durch Coronamaßnahmen pro Woche etwa bei 3,5 Milliarden Euro liegen, wie viel sind dann auf der anderen Seite die dadurch geretteten Leben wert? Dazu hilft ihnen dieses Rechenexempel: Als in den 90er-Jahren in den USA das Tempolimit erhöht wurde, gab es mehr Tote und Verletzte. Ein zu hoher Kostenfaktor? Nein, man multiplizierte die Zeitersparnis durchs zügige Fahren mit den Stundenlöhnen der Pendler. Und schon lohnt sich trotz der menschlichen Verluste gesellschaftlich betrachtet die Raserei auf der Autobahn.
Aber natürlich gibt es da auch Grenzen. Bei wie vielen Toten und Erkrankten wird sie gezogen, beziehungsweise bei wem? Auch hier hilft kühle Berechnung, und bei der Impfreihenfolge gilt dafür folgende Formel: Wer ungeimpft am wenigsten Schaden anrichtet und gleichfalls geimpft am wenigsten Nutzen stiften würde, kommt zuletzt dran. Und wer vollbringt so ein Kunststück? Ich. Ich vollbringe nichts, profitiere nicht von Corona-Aktien-Boom, verliere meine wenigen Ersparnisse. Die geretteten Alten tragen ja wenigstens ihre Pension weiter ins Pflegeheim, ich aber würde niemandem etwas einbringen, selbst wenn ich an der Konsumfront wieder voll einsatzfähig sein dürfte. Kurz: Wo ich vor Corona schon wenig nutze war, so wäre ich danach wirklich zu nichts mehr gut. Und da ich auch vorher schon nicht viel hatte, beziehe ich im Gegensatz etwa zu kurzarbeitenden Gutverdienern keine Corona-Nothilfen. Auch stillgelegt schade ich nicht und verursache dem Staat keine weiteren Schulden. Logisch also, dass ich der Letzte bin, der geimpft werden sollte.
Ach wie schön, dank Corona wissen wir endlich, was wir wert sind. Einige rührige Mitmenschen behaupten jetzt zwar, Leben habe keinen Preis, es habe Würde, die sich nicht verrechnen ließe, der Wert des Lebens sei sozusagen unendlich. So jedenfalls tröstet uns, die Letzten, die Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr. Sie verurteilt die einseitige naturwissenschaftliche Betrachtungsweise der Pandemie als eine „Reduzierung des Menschen auf ein Biosystem“. Mit der vermeintlichen Objektivität der Naturwissenschaft verschleierten Politiker die eben doch bestehenden Handlungsalternativen.
Na, woran erinnert uns das? Klar, an die Krise vor der Krise, die, in der es noch ausschließlich um die Finanzen ging. Vermeintliche Objektivität der Wirtschaftswissenschaften sorgten für „alternativloses“ Handeln, bei dem zur Krisenbewältigung das öffentliche Geld dahin geschaufelt wurde, wo es zuvor auch schon immer hingeschaufelt wurde. Man müsse mit der Pandemie leben und sterben lernen, sagt hingegen Olivia Mitscherlich-Schönherr, hat uns das Virus doch „eine Grenzsituation unseres Menschseins gestiftet und uns mit der Fraglichkeit unseres Menschseins konfrontiert“. Sollte die Kümmernis nun nicht den Körpern allein gelten, sondern auch den Seelen? Das klingt sehr schön, ändert aber auch nichts: Ich setze mich der Fraglichkeit meines Daseins aus und versetze mich nur umso bereitwilliger – wie Sie sicher auch – noch einmal in die zarten Seelen von kurzbehosten Jungmillionären.
Hilft auch nichts, dass Theologen dem noch eines draufsetzen, selbst wenn die dazu noch Soziologen sind und von einer „Rücksichtslosigkeit der neuen Wissenschaftsreligion“ sprechen. Reimer Gronemeyer weiß natürlich, dass er damit derzeit kaum landen kann. Jedenfalls dann nicht, wenn er im gleichen Atemzug den „neoliberalen Entfesselungsakt“ beklagt, mit dem wir uns innerlich von unserem Planeten und dessen natürlichen Bedingungen losgelöst haben und ihn unter der anmaßenden Vorstellung der absoluten „Berechenbarkeit und Planbarkeit des Lebens zu einem Ort radikaler Diesseitigkeit“ verkümmern lassen. „Diesseitskrüppel“ seien die Menschen auch ohne Corona und das lachhafte Quergedenke nur die andere Seite derselben Medaille. Die Coronakrise ist, sagt der 81jährige, bloß das Trainingslager für die Auseinandersetzung mit dem Klima.
Alles gut und richtig, aber soll ich denn nun gleich auf das Jenseits hoffen, worin die Letzten als Erste drankommen? Noch vorm Impfen? Bitte nicht! Oder soll die Aussicht auf späte himmlische Gerechtigkeit eine tröstliche Abbitte sein für meine Schlussposition in der irdischen Warteschlange? Nicht einmal das, denn mit Gerechtigkeit hat die Reihung vor Impfdose ebenso wenig zu tun, wie das in seiner Natur nun einmal unerbittliche Klima.
Irdische Vorstellungen von Verteilungsgerechtigkeit unterliegen Prinzipien, die mit der Zeit gehen und sich wandeln können: Nach puren Bedürfnissen ging es in der Urhorde, entsprechend der Herkunft im Feudalismus, nach Leistung im Kapitalismus und nach Engagement im Sozialismus – und heute gilt alles gleichzeitig als gerecht, je nachdem nämlich, wo man sich gerade selbst einsortiert. Diese Gerechtigkeitspluralität nennt man Gesellschaft, und gerade weil sie so unklar ist, fragt man besser nicht danach, was gerecht ist, sondern was gerechtfertigt ist – und siehe, schon ist alles wieder ganz klar! Nutzt nichts, schadet nichts, macht nichts: Ich bin da, wo ich hingehöre, denn es fällt mir immer noch jemand ein, der völlig gerechtfertigt eher drankommen muss.
Wenn Alte, Schwache und Systemrelevante durch sind, kommen bitte die Engbehausten dran, Häftlinge, Flüchtlinge und Plattenbaubewohner, und natürlich die Unbehausten, die Obdachlosen ohne Rückzugsorte. Und wenn es stimmt, dass Geimpfte niemanden mehr anstecken, dann bitte schleunigst die Jungen drannehmen, die Schüler und Studenten. Was nutzt die ganze Impferei, wenn doch nur wieder die Scheintoten zur Arbeit dackeln. Deshalb auch bitte noch im Frühling alle Feierbiester impfen, die dann in Diskos abzotten können, anstatt noch einen Sommer lang die Parkanlagen mit ihren Lautsprechernanlagen vollwummern. Das zu verhindern, ist nun einmal eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, für die man auch mal zurückstecken muss. Und dann? Ich etwa? Aber ach, was ist mit all den Hunden, die als treue Begleiter durch die Krise angeschafft wurden? Den Katzen, Hamstern oder Wellensittigen mit Vorerkrankungen? Den aus Langeweile überfütterten Meerschweinchen mit einem Body-Mass-Index von über 30? Und na klar, dann wären da die weißen Mäuse, die im labor-technischen Bereich tätig sind. Und dann noch…
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