Die neue Schnappatmungs-Gesellschaft

Ausgerechnet die Franzosen haben ihren Philosophen Stéphane Hessel falsch verstanden. Sein kleines Buch „Empört euch!“ meinte nicht, dass man sich über jeden Mist aufregen soll.

Das würden viele Franzosen gerne bei allen sehen, deren Meinung vom Mainstream abweicht... Foto: Dasemarcalvarez / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0

(KL) – Ah, Frankreich! Das Land der Eleganz, der Philosophen, der großen Ideen, die um die Welt gehen! Doch momentan ist Frankreich auf dem Weg zu einem „Puritanismus 2.0“, der das genau Gegenteil der Freiheit des Denkens, der Freiheit der Meinungsäußerung und der Freiheit als Konzept ist. Eine weitgehend gleichgeschaltete Presse, eine ständige Berieselung mit altbackenen Werten und plötzlich ist dieses wunderbare Land dabei, sich in einem Konservatismus zu wälzen, der phasenweise widerlich ist.

Was die großen Themen unserer Zeit angeht, hält man sich lieber bedeckt. Klimawandel, Rüstungsexporte, Ausländerfeindlichkeit, Gewalt in der Gesellschaft – da schweigt man fein und überlässt die Empörung anderen. Aber wenn die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ eine Karikatur auf die Titelseite bringt, auf der anlässlich der Frauenfußball-WM im Land eine schlecht gezeichnete Vulva mit einem Fußball als Klitoris gezeigt wird, steht das Land Kopf. Genau, wie bei der Frage, ob Homosexuelle heiraten dürfen. Oder ob Jugendliche freitags demonstrieren dürfen.

Die Diskussionen, die um diese „Aufreger“ in den Sozialen Medien ausbrechen, sind erstaunlich. Da werden Verbote gefordert (was die Neo-Puritaner eigentlich auf die gleiche Ebene stellt wie die islamistischen Extremisten – immerhin waren der Auslöser für das Terror-Gemetzel 2015 in der Redaktion von „Charlie Hebdo“ Mohammed-Karikaturen…), da werden Strafen angeregt, da wird vorgeschlagen, eine „Humor-Zensur“ einzuführen und was den Neo-Puritanern noch so alles einfällt, um das zu unterbinden, was vom beruhigenden Mainstream abweicht.

Doch wie kann es sein, dass eine Gesellschaft, die für ihr unabhängiges Denken, für ihre Ideen, für ihre Freiheit bekannt ist, sich auf einmal so entwickelt wie die USA? Der neue Konservatismus, der Frankreich erfasst hat, seit das Land vor der Wahl stand, entweder die Rechtsextreme Marine Le Pen oder den sich für Jupiter haltenden Emmanuel Macron zu wählen, ist nicht mehr zu übersehen. Dazu kommt die soziale Krise, die sich durch die „Gelbwesten“ auf die Straße verlagert hat, und die nach 31 für alle Beteiligten anstrengenden „Akten“ dazu führt, dass sich die Franzosen nach Ruhe und Ordnung sehnen – das alles ist der Dünger, auf dem dieser Neo-Puritanismus gedeiht.

Erstaunlich ist, wie sehr die Franzosen diese Entwicklung leugnen. In Frankreich ist man beispielsweise sehr beunruhigt über die Wahlergebnisse der AfD und deren 10 bis 12 % bei Wahlen. Ebenso aufmerksam verfolgt man, wie sich Italien unter Salvini, Ungarn unter Orban und andere Länder unter ihren rechtsextremen Führern entwickeln. Die Tatsache, dass der rechtsextreme Front National (inzwischen in „Rassemblement National“ umetikettiert) die stärkste Partei im Land ist, die gute Chancen hat, die nächste Regierung zu stellen, wird geflissentlich übersehen. Es ist, als ob man sich in Frankreich weigert, die Dinge beim Namen zu nennen, die wirklich gefährlich sind. Stattdessen ereifert man sich – über Petitessen wie eine Karikatur auf „Charlie Hebdo“.

Dass in Frankreich auch die Diskussion über die Todesstrafe wieder aufgeflackert ist, zählt ebenfalls zu den Entwicklungen, die Sorgen machen. Seit 2017 wird alles in Frage gestellt, was man einst als „persönliche Freiheiten“ und damit als gesellschaftliche Errungenschaft betrachtet hatte. Das Demonstrationsrecht wurde aus den Händen der Justiz auf die Verwaltung übertragen, also auf die Weisungsempfänger der Politik, die im zentralistischen Frankreich immer noch von Paris gelenkt wird. Zehntausende Strafverfahren laufen gegen Demonstranten und plötzlich herrscht in Frankreich eine Gesetzeslage, in der die Präfektur sogar Hausarrest gegen Menschen verhängen kann, von denen sie glaubt, dass sich diese an Demonstrationen beteiligen könnten. Rechtsweg ausgeschlossen. Und das sind bereits die Grundzüge eines totalitären Systems.

Man hat es inzwischen fast schon hingenommen, dass wohl die nächste Regierung rechtsextrem sein wird. Die traditionellen Parteien verschwinden gerade ebenso von der Bildfläche wie in anderen Ländern und das es an innovativen Ideen fehlt, geht das Land eben einen anderen Weg. Den Weg der Verbitterten, der Neidischen, der Großmäuligen und der Gewalttätigen. Das im Land herrschende Chaos ist die Grundlage für einen neuen, autoritären Führungsstil, der alles andere als die versprochene „Neue Welt“ ist, sondern der dabei ist, einen autoritär-totalitären Überwachungsstaat einzurichten, der das Gegenteil dessen ist, was Frankreich zu einer führenden Nation gemacht hat.

„Empört euch!“, hatte Stéphane Hessel in seinem Vermächtnis geschrieben, doch die einzigen, die seine Botschaft verstanden haben, sind die Jugendlichen, die tapfer und trotz aller Anwürfe weiter für die Rettung unseres Planeten demonstrieren. Die anderen empören sich inzwischen über jeden unwichtigen Mist und alle zusammen hoffen darauf, dass endlich Ruhe, Zucht und Ordnung einkehrt. Das wird auch sicherlich über kurz oder lang passieren – und Frankreich verliert dabei vieles von dem, was Jahrhunderte lang seinen Charme ausgemacht hat.

Schade.

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