Die Rückkehr zum Europa der Nationalstaaten?

Die einen weinen, die anderen jubeln – der „Brexit“ stellt die grundsätzliche Frage, wie es mit Europa weitergehen soll. Die Krise sitzt deutlich tiefer, als mancher das wahrhaben möchte.

Wenn alle so weitermachen wie momentan, kriegen wir sicher mal wieder so was wie den Hundertjährigen Krieg hin... Foto: Jean Froissard / Wikimedia Commons / PD

(KL) – Europa, das ist eine lange Geschichte von kleinen, mittleren und großen Nationen und Staaten, die sich Jahrtausende lang bekriegt haben. Dies gilt für praktisch alle europäischen Staaten und ein Blick auf die bewegte Geschichte dieses Kontinents zeigt, dass die Neonationalisten, die langsam, aber sicher das Ruder übernehmen, wohl alle im Geschichtsunterricht gefehlt haben.

Nehmen wir Großbritannien. Die Geschichte des Vereinten Königreichs ist eine Geschichte von Invasionen, brutalsten Kriegen und Gewalt. Angeln, Sachsen, Römer, Dänen, Normannen, alle kamen sie auf die Insel, um sich gewaltsam das zu nehmen, was sie wollten. Und wenn es gerade keine Invasionen von außen gab, dann bekriegten sich eben Mercia, Northumbrien, Ostanglien, Powys, Wessex, Sussex, Kent und Wales eben gegenseitig. Wenn sie nicht gerade mit den Pikten im heutigen Schottland im Krieg lagen. Die britische Kleinstaaterei war ein Garant für dauerhafte Kriege, Not, Tod und Elend für die Armen, die wie überall auf der Welt die Kriege für die Mächtigen führen mussten. Auch heute sagt der „Yellowhammer Report“ der britischen Regierung das Gleiche voraus – Not und Elend für die Armen. Tolle Perspektive.

Nehmen wir Deutschland. Bis zur ersten Einigung Deutschlands in der Mitte des 19. Jahrhunderts bestand das heutige Deutschland aus rund 350 Klein- und Kleinststaaten, die sich alle untereinander nicht sehr friedlich gestimmt waren. Wer konnte, führte Krieg gegen seine Nachbarn und wer das nicht konnte, der verkaufte seine jugendliche Landbevölkerung als Söldner an die größeren Fürsten, damit diese ihre kriege führen konnten. Das dann endlich geeinte Deutschland konnte es dann auch gar nicht abwarten, das gerade gewonnene Nationalgefühl zum Grand Slam der Kriege umzumünzen. 1870/71 gegen Frankreich, 1914-18 im I. und 1939-45 im II. Weltkrieg. Denn gerade zur Nation erwachsen mussten es die neuen Deutschen dem Rest der Welt gleich zeigen, dass die diesem überlegen waren. Die Rechnung zahlten, wie immer, die kleinen Leute. Könige gehen ins Exil, Diktatoren beenden schlimmstenfalls ihr Leben und Kriegsherren mogeln sich, wie beispielsweise Paul Hindenburg, von einem Krieg zum nächsten durch.

Nehmen wir Italien. Das Land, das sich gerne in Kriege einmischte, von denen es glaubte, sie sicher gewinnen zu können, berief sich für seine kriegerischen Aktivitäten gerne auf das große römische Erbe. Klappte aber auch nicht immer. Stattdessen spaltete sich das Land lieber selbst und heute stehen sich der reiche Norden und der arme Süden wie feindliche Nachbarn gegenüber. Dabei gehörte das Römische Reich viele Jahrhunderte lang zu den wohl intelligentesten Invasoren. Kaum hatten sie ein Land erobert (und davon gab es reichlich), installierte man die „Pax Romana“ und ließ die besiegten Völker, zumindest diejenigen, die sich unterwarfen, an den Annehmlichkeiten der römischen Zivilisation teilhaben. Was auf Dauer schlauer war, als immer nur alle umzubringen.

Nehmen wir Russland. Was für eine bewegte Geschichte, als Russland zwar groß, doch umgeben von lauter kleinen und großen Staaten war. In den Jahren der Sowjetunion war wenigstens Ruhe im Karton – seit dem Ende der UdSSR gibt es an jeder Ecke Krieg. Und Unruhen. Und dauerhafte Spannungen. Je kleiner die Staaten in einem solchen System sind, desto größer ist die Kriegsgefahr.

Nehmen wir den Balkan. Das künstlich geeinte Jugoslawien hatte unter dem schlimmen Finger Tito einen großen Vorteil – es gab keinen Krieg. Kaum war Jugoslawien auseinandergebrochen, gingen Serben, Kroaten, Bosnier, Slowenen und die anderen sofort aufeinander los. Das Massaker von Srebenica sollte eigentlich ein Hinweis darauf sein, dass immer kleiner werdende Zusammenhänge immer sicherer zum Krieg führen.

Und nehmen wir noch einmal Großbritannien. Seit der Wahl von Boris Johnson vor wenigen Tagen steigen die Spannungen in Schottland und Irland und das Vereinte Königreich steht vor dem Auseinanderfallen. Die irische Frage flackert dort auf, wo sie vor 30 Jahren brüchig befriedet wurde. Wer wird wohl den Preis dafür bezahlen, wenn sich die britische Insel wieder einmal in ihre Bestandteile auflöst? Die Lords? Das Königshaus? Die Superreichen? Oder am Ende doch wieder die Armen?

Wer jetzt jubelt, dass sich die Briten endlich vom „Brüsseler Joch“ gelöst haben und gerne sähe, dass andere Länder dem britischen Beispiel folgen, der ist nicht etwa ein politischer Weitseher, sondern ein lebender Beweis für das Versagen unserer Schulsysteme. Sich darüber zu freuen, dass sich Europa auf den Weg zurück in die Zukunft macht, das zeigt nur, dass der Geschichtsunterricht in Europas Schulen völlig unzureichend ist. Es sei denn, man ist tatsächlich Nostalgiker einer Zeit, in der Slogans wie „Jeder Tritt ein Britt, jeder Stoß ein Franzos“ hoch im Kurs standen. Der wieder erwachte Neonationalismus ist ungefähr das dämlichste, was uns in Europa seit 1945 passiert ist. Könnte vielleicht mal jemand die schlappen europäischen Institutionen reformieren, bevor uns die Schwachköpfe in die nächsten Katastrophen führen?

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