Die Stunde der Mathematiker

Nach der Europawahl biegt sich fast jede Partei die Ergebnisse so zurecht, dass sie am Ende gar nicht mehr soooo schlimm aussehen. Was einmal mehr beweist, dass niemand verstanden hat, was gerade passiert.

Wenn man lange genug rechnet, sieht auch das schlechteste Wahlergebnis noch halbwegs OK aus... Foto: Fir0002 / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0

(KL) – Unmittelbar nach Wahlen sind die Dienste von Mathematikern besonders gefragt, denn nun geht es darum, erschreckend schlechte Zahlen so zu drehen und zu deuten, dass sie am Ende gar nicht mehr so erschreckend aussehen. Doch das ewige „Schönreden“ von Wahlniederlagen nützt gar nichts, denn dieser Ansatz verhindert immer wieder erfolgreich, dass sich die Parteien die konkrete Frage stellen müssen, wie sie sich auf die Welt des 21. Jahrhunderts einstellen können.

Ob es nun das rechtsextreme „Rassemblement National“ ist oder „La République en Marche“, diese beiden stolzen Wahlsieger kamen beide auf rund 11 % der Stimmen aller Stimmberechtigten. Wie kann man nur von einem „Sieg“ sprechen, wenn 89 % der Bevölkerung nicht für einen gestimmt haben? Es ist zwar schön, dass am Ende alle mehr oder weniger gut mit dem Ergebnis leben können, doch stimmt die Perspektive nicht mehr. Wie kann die PS in Frankreich mit ihrem Ergebnis zufrieden sein (rund 6 %), nachdem diese Partei vor zwei Jahren noch den Präsidenten und die Mehrheit in beiden gesetzgebenden Kammern gestellt hat? Diese 6 % sind kein Wahlerfolg, sondern die nächste Ohrfeige der Wählerinnen und Wähler, die aber von den offenbar schmerzfrei gewordenen Parteien nicht wahrgenommen wird.

Die Zufriedenheit setzt sich bis in die kleinsten Splittergruppen fort. Alle sind zufrieden, alle haben einen tollen Wahlkampf gemacht und alle sehen die Wahlergebnisse als einen Auftrag, auf ihrem Weg unbeirrt weiterzumachen. Doch so lange die Parteien nicht in der Lage sind, die Zeichen der Zeit richtig zu deuten, so lange die Parteien weiterhin ihre verkrusteten und korrupten Parteiapparate hätscheln, so lange wird sich auch politisch nichts ändern. Nach wie vor versuchen die Parteien, die Politik an ihre begrenzten strukturellen Möglichkeiten anzupassen, statt ihre Strukturen den Realitäten des 21. Jahrhunderts anzupassen.

Und kaum sind die Wahlen vorbei, kommen die alten Krokodile aus ihren Löchern gekrochen und bieten sich als neue Hoffnungsträger an. Doch statt laut zu lachen, grübelt man in den gebeutelten Parteizentralen bereits wieder über neue Allianzen, Strategien, Personalfragen. Business as usual. Hinterfragen der eigenen Programmatik? Pustekuchen? Ansätze zu einer modernen Umstrukturierung der Parteien? Nichts da. Aufbau neuer Austauschstrukturen zwischen Zivilgesellschaft und Politik? Im Leben nicht. Aber glauben die Politikprofis ernsthaft, dass sich die Menschen weiterhin mit sinnentleerten Worthülsen wie „wir stellen künftig den Menschen ins Zentrum unseres Handelns“ oder „wir müssen die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen“ oder „Europa wird das Europa der Bürger oder es wird nicht“ abspeisen lassen?

Der Wahlkampf der großen (und kleinen) Parteien in Frankreich war, gelinde gesagt, eine intellektuelle Bankrotterklärung. Dass es bei der Wahl am letzten Sonntag um Europa ging, hat in Frankreich kaum jemand wahrgenommen. Pro oder contra Macron, Kaufkraft in Frankreich, Gelbwesten, das waren die Themen, die den französischen Wahlkampf dominierten. Und die auch jetzt die Analysen dominieren.

Das Problem sind nicht die Bürgerinnen und Bürger, das Problem sind die Parteien, deren Seilschaften und Netzwerke so engmaschig sind, dass nur solche Kandidaten und Kandidatinnen eine Chance haben, deren Netzwerke funktionieren. Was bedeutet, dass man sich bis zur Unkenntlichkeit in Abhängigkeiten verwickeln muss, um auf eine Kandidatur hoffen zu dürfen.

Also lassen wir die Mathematiker so lange weiterrechnen, bis am Ende alle mit ihren Ergebnissen zufrieden sind. Das ist eine beruhigende Übung, denn sie erlaubt den Verzicht auf eine echte Fehler- und Strukturanalyse. Dass die Parteien damit die Demokratie zerstören und den Weg hinein in eine totalitäre Zukunft ebnen, das werden dann alle zusammen verstehen, wenn es zu spät ist.

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