Die Türkei führt die EU am Nasenring durch die Manege

Großzügig – die Türkei ist beim Thema Visafreiheit in der EU zu Zugeständnissen bereit. Langsam wird es bizarr.

Ein Zeichen der "Hochachtung" - entgegen der Gepflogenheiten fehlt beim offiziellen Besuch von Martin Schulz die europäische Flagge... Foto: (c) European Union 2016 - Source EP

(KL) – Ankara zeigt sich gegenüber der EU großzügig. Man bestehe nicht mehr darauf, dass die Visafreiheit für türkische Staatsbürger schon im Oktober eingeführt würde, erklärte die türkische Regierung, „aber vor Jahresende muss das schon passieren“. Andernfalls, so die unterschwellige Drohung, würde das unsägliche Flüchtlingsabkommen aufgekündigt. Die EU sollte sich langsam mal überlegen, ob sie nicht ihrerseits jegliche Kooperation mit einem Regime einstellt, dass gerade dabei ist, sämtliche „europäischen Werte“ systematisch zu vergewaltigen.

Die europäische Spitzenpolitik stellt sich im Verhältnis zur Türkei extrem ungeschickt an. Offenbar geben sich alle große Mühe, dem Regime Erdogan die Rückendeckung zu geben, die es gerne hätte. Nach dem unglaublichen Besuch des Europarat-Chefs Jagland, der die „Säuberungen“, Verhaftungswellen, Verstöße gegen die Menschenrechte durch die Türkei als „Notwendigkeit“ bezeichnet hatte, war der Auftritt des Präsidenten des Europäischen Parlaments Martin Schulz letzte Woche in Ankara nicht minder peinlich.

So bezeichnete Schulz bei seinem Treffen mit Recep Tayyip Erdogan die Niederschlagung des angeblichen „Putschs“ als einen „Erfolg für die Demokratie“ – obwohl völlig klar ist, dass dieser „Putsch“ mehr Fragen aufwirft, als es bislang an Antworten gibt. Hätte Schulz nicht einfach schweigen können, angesichts der offenen Fragen, die selbst eine Mitwirkung oder Organisation dieses „Putschs“ durch Erdogans Dienste selbst möglich erscheinen lassen? Wie zum Beispiel die bereits vor dem „Putsch“ bereit liegenden Verhaftungslisten möglicher Oppositioneller? Und das totalitäre Verhalten des Erdogan-Regimes als „Erfolg der Demokratie“ zu bezeichnen, das geht einfach zu weit.

Doch Europa hat ganz offensichtlich Angst vor der Türkei. Oder anders gesagt, dass die Türkei die Schleusen öffnet und den ungefähr 2 Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei das Tor nach Europa öffnet. Also ist man bereit, mit dem Teufel zu paktieren, aus Sorge darum, den Wohlstand Europas mit denjenigen teilen zu müssen, die man gemeinsam mit den USA und Russland aus ihren Städten, Dörfern und Wohnungen gebombt hat. Hat da jemand „europäische Werte“ gesagt?

Und nun ist die Türkei also freundlicherweise bereit, noch ein paar Wochen länger zu warten, bis die Visafreiheit für ihre Bürger in der EU eingeführt wird. Zwar ist man nicht bereit, die hierfür vertraglich festgelegten Bedingungen zu erfüllen, doch im Hochgefühl seiner Allmacht ist Erdogan mittlerweile an einen Punkt gekommen, an dem er meint, Europa seine Bedingungen diktieren zu können. Dass er dieses Gefühl hat, verdanken wir allerdings auch dem unglaublich ungeschickten Verhalten der europäischen Politiker, die den Diktator am Bosporus hofieren wie einstmals die europäische Spitzenpolitik den deutschen Diktator. Natürlich immer in der Hoffnung, ein wild gewordener Diktator würde durch Diplomatie zur Vernunft kommen, doch die Geschichte zeigt, dass wild gewordene Diktatoren durch diplomatische Zugeständnisse nicht zur Vernunft kommen, sondern diese (zu Recht?) als Schwäche ihrer Verhandlungspartner interpretieren und dadurch eher noch stimuliert werden, noch rücksichtsloser vorzugehen. Oder anders gefragt – was haben die bisherigen diplomatischen Anstrengungen in Richtung Ankara gebracht? Wie viele Gefangene wurden aufgrund dieser diplomatischen Bemühungen freigelassen? Wie viele Medien durften wieder an den Start gehen? Wie viele Beamte, Lehrer, Richter wurden wieder eingestellt? Was bewirkten diese diplomatischen Anstrengungen im Krieg der Türkei gegen die Kurden?

Die EU sollte jetzt sämtliche Verhandlungen mit der Türkei auf Eis legen und von ihrer Seite aus das zynische Abkommen bezüglich der syrischen Flüchtlinge aufkündigen. Das Geld, das man der Türkei im Rahmen dieses Abkommens versprochen hat, wäre besser in Griechenland, Italien und dem Rest der EU investiert, um dort eine menschenwürdige Aufnahme der Flüchtlinge sicherzustellen. Es wäre an der Zeit, dass sich das institutionelle Europa an die „europäischen Werte“ erinnert, statt diese ausgerechnet an einen Präsidial-Diktator am Bosporus zu verramschen.

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