Die Untertanen der unsozialen Demokratie

Noch existiert die deutsche SPD – ob die selbst erklärten Verteidiger der „Kleinen Leute“ die erneute Koalition mit den Vertretern des gesellschaftlichen Status Quo übersteht, hängt auch davon ab, ob sie ihre Untertanenmentalität endlich überwindet.

Da sind sie nun, stolz, mit dem unterschriebenen Koalitionsvertrag. Wie lange die Zwangsehe wohl hält? Foto: Sandro Halank

(Von Michael Magercord) – Mit wissenschaftlichem Stolz haben die SPD-Unterhändler der Verhandlungen zur erneuten Großen Koalition die Ergebnisse präsentiert: siebzig Prozent der Inhalte seien sozialdemokratisch. Stimmt. Jedenfalls wenn man so klein denkt, wie Sozialdemokraten sich selbst denken. Denn wie lautet der Standardsatz, den die führenden Genossen und erneuten Groß-Koalitionäre herbeten: „Wir haben den Konservativen viel abgetrotzt“. Nicht gerade eine Wortwahl, die vor Selbstbewusstsein strotzt.

Abtrotzen, etwas herausholen für die Schwachen – das ist das Vokabular von Bittstellern. Eine prinzipielle Systemidee, in der die Schwächeren automatisch einen Anteil an den Errungenschaften ihrer Gesellschaft haben, verkörpert sich darin nicht. Die Sozialdemokraten als Bittsteller für die Untertanen, die dem Souverän ein paar Zugeständnisse abringen. Das war’s, mehr wollen sie nicht mehr – oder vielleicht auch nie.

Denn wie sollte sie es auch anders sehen, wenn die eigene Politik diese dem System ausgelieferten Untertanen erst erzeugt hatte. Agenda 2010, Hartz 4, alles maßgeblich von Sozialdemokraten in die Wege geleitet. Und sie haben trotz etlicher Jahre der Regierungsbeteiligung nicht den ehrlichen Versuch unternommen, daran etwas zu ändern oder gar rückgängig zu machen. Im Gegenteil, zwar hat Deutschland eine geringe Arbeitslosigkeit, der Preis aber sind „working poor“, die es hinnehmen müssen, von ihrer Vollzeitarbeit ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten zu können. Und Hartz 4 hat die Grenzen des Artikel 1 des Grundgesetzes gewaltig gedehnt. Ob die Würde eines Menschen antastbar ist, hängt seither davon ab, ob er gezwungen ist, sich den Regelungen der Arbeitsbürokratie zu unterwerfen.  Wer ihr unterliegt, muss nicht nur jede noch so alberne „Maßnahme“ mitmachen, er darf auch nichts von dem behalten, was er sich in seinem Arbeitsleben erworben hat. Selbst aus der eigenen Wohnung muss er ausziehen – kurz: Armut per Gesetz. Und es sind ausgerechnet Sozialdemokraten, die dafür gesorgt haben, dass der Staat mit seinen doch eigentlich souveränen Staatsbürgern derart umspringt.

„Zeit für Gerechtigkeit“ hieß im September 2017 der Wahlslogan der SPD, immerhin, doch was die Sozialdemokraten darunter im Jahr 15 ihrer Agenda verstehen, lässt sich an ihrem Rentenkonzept ablesen. Eine Solidarrente soll jenen Geringverdienern, die 35 Jahre eingezahlt und noch Kinder großgezogen haben, eine etwas höhere Rente zusprechen, als die Sozialrente, die sie maßgabe ihrer geringen Beiträge eigentlich nur bekommen würden. Die Ungerechtigkeit, die man da bekämpfen will, wird gegenüber jenen ausgemacht, die noch weniger verdienen oder einige Jahre weniger in die Rentenversicherung eingezahlt haben. Das heißt, die SPD macht unter den Minirentnern eine Gerechtigkeitslücke aus und drängt in der Koalition darauf, sie zu schließen, lässt aber die Lücke zwischen den wirklich Reichen und dem Rest der Bevölkerung unangetastet. Übrigens, auch den Solidarrentnern wird eine Bedürfnisprüfung nicht erspart bleiben: wer etwa von Amtswegen zu üppig wohnt, muss trotzdem umziehen.

Das ist pure Untertanenpolitik, organisiert von Untertanen für Untertanen. So eine Sozialdemokratie braucht keiner mehr, zumindest niemand, den die Angst vorm Absturz umtreibt. Ein Blick nach Italien mag das noch einmal in aller Deutlichkeit illustrieren. Der gewiefte Rattenfänger Berlusconi versprach allen eine Grundrente von 1.000 Euro bei gleichzeitigen massiven Steuersenkungen für seines Gleichen. Die rechtsradikale Lega will die Erhöhung des Renteneintrittsalters zurücknehmen. Die als populistisch eingestufte Fünf-Sterne-Bewegung wiederum versprach ebenfalls 1.000 Euro Mindestrente, allerdings bei einer gleichzeitigen Decklung der Höchstrenten auf 5.000 Euro zur Gegenfinanzierung. Und was fiel den Sozialdemokraten zur Rente ein? Sie sprachen zwar von einer Mindestrente, die aber nur für Menschen, die lang genug eingezahlt haben, bis zu 950 Euro betragen würde, für die anderen, die weniger Beiträge geleistet hätten, läge sie bei nur 780 Euro. Wieder wurde die Gerechtigkeitslücke zwischen denen aufgerissen, die ohnehin schon ziemlich unten sind – und von wem? Den Sozialdemokraten.

Was könnte die SPD und ihre europäischen Genossen jetzt doch noch retten? Eine grundsätzliche Debatte über die Würde des Menschen im Arbeits- und Leistungssystem täte Not. Und vielleicht könnte sie dazu führen, dass die Sozialdemokratie ihre Untertanenmentalität ablegt und den Untertan wieder zum Souverän erhebt. Das müsste dann wiederum dazu führen eine Politik zu betreiben, die auch die sogenannten Schwächsten befähigt, ihre existentiellen Bedürfnisse unabhängig von Tagespolitik und Tagespolitikern zu befriedigen. Wie soll das gehen? Durch ein bedingungsloses Grundeinkommen etwa, oder zumindest eine bedingungslose Grundrente. Davon hätten auch jene Geringverdiener mehr, deren Rente ohnedies nicht reicht, egal ob sie nun 35 oder nur 30 Jahre eingezahlt haben.

Aber wird sich die SPD zu echten Schritten zur Erlangung der inneren Unabhängigkeit durchringen? Zumal in der erneuten Koalition mit den Christdemokraten und Christsozialen? Zweifel zumindest sind erlaubt. Es sollte ihnen zu denken geben, dass es ausgerechnet der selbsternannte Volkstribun und designierte Heimatminister Horst Seehofer war, der bei der offiziellen Unterzeichnung des Vertrages zur Großen Koalition am Montag mit der paternalistischen Wendung aufhorchen ließ, dass die Mitte der Gesellschaft die „Kleinen Leute“ stellen. Es wäre nun an den Sozialdemokraten dafür zu sorgen, dass sich diese Leute nicht noch kleiner fühlen, ist es doch dieses Gefühl, dass den Rechtspopulisten das Feld bereitet.

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