Die Utopie der Melancholie

Zwei Ausstellungen, die derzeit in Straßburg zu sehen sind, zeigen im Grunde dasselbe, allerdings auf völlig unterschiedliche Art: im „Centre Européen d’Action Artistiques Contemporain“, kurz CEAAC, und in der Galerie für Fotografie „La Chambre“.

Urbane Kunst nimmt die unterschiedlichsten Formen an. Interessant sind dabei die meisten. Foto: Michael Magercord / Alain Bublex

(Von Michael Magercord) – Worum kann es gehen, wenn etwa ein Zelt im Ausstellungsraum aufgebaut ist, ein Pedalwerk eines Fahrrades als rotierenden Fleischspieß fürs Lagerfeuer dient, oder nachgebaute paläontologische Werkzeuge in einem modernen Werkzeugaufhänger verfrachtet sind? Was wiederum können Fotos bedeuten, auf denen nichts anderes zu sehen ist, als menschenleere, aber menschengemachte Landschaften?

Kern der naturverbundenen Ausstellung „Ultralocal“ im CEAAC ist ein Film der Filmemacherin Bertille Bak aus Paris über eine Familie von Jägern aus dem elsässischen Dörfchen „Ursprung“. Gut, die junge Künstlerin hat das deutsche Wort etwas missverstanden und der zum Film nun einmal obligate Beitext quält sich etwas bedeutungsschwanger mit einer gesprungenen Uhr herum. Aber ob mit „h“ oder ohne, ihrem Video „hameau“ tut das keinen Abbruch. Der ursprüngliche Nomen bleibt dem Film trotzdem Omen, wenn man darin die fünf passionierte Jäger sieht und ihr Leben im Wald, im Dorf, mit ihren Hunden, irgendwo in einem Grenzgebiet zwischen Wildnis und Zivilisation. Oder einen von den Jägern angeheuerten Schauspieler, der sich anscheinend auf Tierimitationen spezialisiert und ihnen nun zeigt, wie sich ein Wolf bewegt. Und tatsächlich, der Mann mit der Punkfrisur streunt durch die Weise wie ein Wolf, täuschend echt, jedenfalls solange, bis er auf einen Pfosten hinauf klettert wie ein Affe.

Eine Welt, die es gar nicht mehr gibt. Geben darf. Geben sollte. Aber sie gibt es, immerhin zumindest noch in diesem Video. Und poetischer kann man sie in gerade einmal 22 Minuten kaum fassen, zumindest wenn Poesie heißt, dass sich in einem Moment der Rührung eine ganze Welt offenbart. Dank des Einfühlungs- und Inszenierungsvermögens der Filmemacherin genügt es dazu schon, Baumstämme wie von Geisterhand gezogen über den Waldboden schleifen zu sehen.

Die Ausstellung von Fotoserien von Alain Bublex im La Chambre und im Parkhaus am Place Austerlitz scheint zunächst das komplette Kontrastprogramm zu bieten: Nicht das Seiende als etwas im Grunde bereits Gewesenes wird gezeigt, sondern das Utopische in seiner gegenwärtigen Form. Per Photoshop aus Savoyen und dem Fuji aus Japan modulierte Vorgebirgslandschaften, Vorortstraßenzüge mit containerartigen Aufbauten auf Vororthäuschen, oder Bilder der konkreten Utopie einer noch nicht bezogenen Neubausiedlung à la française, eines dieser „lotissements“, die Land auf Land die Vorstädte prägen.

Doch egal wo, keine Menschenseele belebt das fotografische Universum des Alain Bublex. Warum? Weil gerade keine da waren, sagt der Fotograf. Aber nein, wehrt er sich, die Abwesenheit von Menschen sei kein Statement, keinerlei Aussage zur Depressionskraft einer Vorortwelt aus Beton und Pixeln. Ganz als sei es den Menschen unserer Zeit doch sowieso besser egal, wo er ist, sagt Alain Bublex: „Es gibt keine schönen oder hässlichen Orte, nur interessante“. Genius loci, die Poesie des Ortes, dessen Atmosphäre den darin Aufhaltenden vollkommen einnimmt? Existiert nicht: „An jedem Ort findet sich etwas Interessantes, und sei es nur ein Autobahnkreuz. Das muss reichen, um sich wohl zu fühlen“, sagt der Fotograf der konkreten Utopie.

Auf welche gemeinsame Spur sollen uns diese beiden doch so unterschiedlichen Ausstellungen nun führen? Geradewegs in die Gegenwart, denn sie stellen uns die vielleicht wichtigste Frage, die uns seit der Moderne umtreibt: Wie prägen uns unsere Lebensumräume? Und wie ihr beständiger, sich immer weiter beschleunigender Wandel? Prägen uns unsere Landschaften mehr als wir sie? Lässt sich der Gemütszustand der Gesellschaft an ihren Landschaften ablesen? Oder vielleicht sogar schon die Zukunft bestaunen, zumindest ihre zukünftigen Ruinen?

In Straßburg wird an dieser Zukunft ja besonders eifrig gebaut, ein ganz neues Stadtviertel zwishen der alten Innenstadt und dem Rhein wird gerade entlang der neuen Straßenbahnlinie nach Kehl aus dem Boden gestampft. Wer diese neue Welt mehr als nur „interessant“ finden will, wird sich der letzten utopischen Frage, die sich zwischen die archaische Lebenswelt der Vogesen in dem Film von Bertille Bak und den menschenleeren Vorortwelten auf den Fotos von Alain Bublex einnistet, nicht entziehen können: Wie halten wir es in den von uns geschaffenen Lebensräumen eigentlich aus, ohne melancholisch zu werden?

Bertille Baks Film ist im CEAAC noch bis zum 16.10. zu sehen: www.ceaac.org
Alain Bublex Fotos bleiben noch bis zum 13.11. im La Chambre: www.la-chambre.org

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