Die Wahrheit über Griechenland – die wir nicht sehen wollen

Beim Thema Griechenland geht es immer nur um Zahlen. Sie wollen Zahlen? Wir geben Ihnen Zahlen. Keine Zinssätze, keine Milliarden, sondern Zahlen des Elends.

Griechenland ist nicht nur ein Urlauberparadies, sondern ein Land, das wir zum zweiten Mal in 70 Jahren verwüsten. Foto: Olaf Tausch / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0

(KL) – Sorry, wenn wir Ihnen den Wochenanfang trotz des schönen Wetters etwas verderben. Doch während sich die Aufmerksamkeit der Welt auf neue Themen wie die Türkei und die Bombardierungen der Kurden wendet, gerät das Thema Griechenland schnell in Vergessenheit. In völliger Verkennung der Tatsachen sind die meisten von uns der Ansicht, dass das Gröbste vorbei ist, dass Griechenland „gerettet“ ist und dass man wieder zur Tagesordnung übergehen kann.

Doch das ist eine grausame Fehleinschätzung. Da es in Griechenland offenbar immer nur um Zahlen geht, präsentieren wir Ihnen hier ein paar Zahlen. Zahlen, die Sie nachdenklich stimmen sollten. Zahlen, die Titel wie „Keine Milliarden mehr für gierige Griechen“ (BILD) in ein ganz anderes, hässliches Licht rücken. Zahlen, bei denen man einmal darüber nachdenken sollte, ob man wirklich in Zukunft für diejenigen stimmen sollte, die diese Zahlen zu verantworten haben.

Die Quelle dieser Zahlen ist ein erschütternder Dokumentarfilm des Franzosen Philippe Menut, der das griechische Drama seit 2012 vor Ort begleitet. Und der in seinem Film „Das griechische Leid: Kindersterblichkeit +43 %“ sehr nüchtern die Lebensbedingungen der Griechen seit 2012 schildert.

Die erste Zahl steht ja bereits im Titel des Film. Seit 2012 ist, laut einem Bericht von „Médecins sans frontières“, die Kindersterblichkeit in Griechenland um 43 % (!) gestiegen. Grund dafür ist der Zusammenbruch der medizinischen Versorgung der Bevölkerung, der Hunger (seit 2012 sind in Griechenland 400.000 Menschen verhungert) und natürlich die soziale Verelendung des Landes.

Machen wir mal weiter – die Renten in Griechenland sind seit 2012 um 25 % gesunken, alleine in Athen sind 30.000 Menschen obdachlos, das Gesundheits-Budget des Landes wurde um ein Drittel gekürzt, die Arbeitslosigkeit ist um 300 % angestiegen und zahlreiche öffentliche Dienste sind schlicht zusammengebrochen.

In seinem Film sagt Menut einen Satz, der nachdenklich stimmen sollte: „Während die Lebenshaltungskosten mit denen von Paris und London vergleichbar sind, befinden sich die Gehälter auf dem Niveau von Bulgarien“. Was dazu führt, dass 40 % der Menschen in Athen im letzten Winter nicht heizen konnten. Da trifft es dann ja genau die Richtigen, wenn die europäischen „Geldgeber“ die Mehrwertsteuer für Energie kräftig erhöht haben. Bei einem Mindestlohn von 480 € wird Heizen zum schieren Luxus.

Auch mit dem Vorurteil, die Griechen würden keine Steuern zahlen, räumt der Film auf. Das stimmt nämlich einfach nicht – genau wie in Deutschland werden die Steuern direkt von Lohn und Gehalt einbehalten und die Steuerhinterziehung betrifft in Griechenland, ebenso wie anderswo, die „Oberen 10.000“, die sich mit allen möglichen Tricks vor ihrer Beteiligung am Allgemeinwesen drücken.

Faule, gierige Griechen? Der durchschnittliche Arbeitnehmer in Griechenland arbeitet 40,6 Stunden pro Woche, die Franzosen hingegen nur 35,7 und wir Deutschen 35,3. Vielleicht sollte man mal die Terminologie der Berichterstattung überdenken und aufhören, ein Bild von Ouzo saufenden und Strandpartys feiernden Griechen revidieren, die dann die Quittung für ihre Gelage an die deutschen Behörden schicken. Denn dieses Bild wird ausschließlich von Politikern und Massenmedien wie BILD transportiert – alleine, es trifft nicht im Entferntesten zu.

Zweieinhalb Flugstunden von Frankfurt entfernt leidet ein europäisches Volk. Ein Volk, dem Nazideutschland im zweiten Weltkrieg das gesamte Staatsvermögen abgenommen hat, das Experten heute auf einen aktuellen Wert von 54 Milliarden € einschätzen.

Doch das Elend der Griechen geht weiter. Seit 2012 ist die Anzahl der Abtreibungen um 30 % gestiegen, denn kaum eine junge Frau kann es noch verantworten, ein Kind in diese sterbende Gesellschaft zu setzen. Die Auswirkungen dieser Verzweiflung werden also über Generationen anhalten und man muss die jungen Frauen verstehen, denn in einem Land, in dem ein Drittel der Bevölkerung überhaupt keine medizinische Versorgung mehr hat, steigt eben auch, wir kommen zum Anfang zurück, die Kindersterblichkeit. Zur Erinnerung: um 43 % seit 2012. Und da jubeln wir Wolfgang Schäuble und Angela Merkel zu, weil diese sich weigern, über einen Schuldenschnitt für dieses leidende Land auch nur zu verhandeln? Haben wir eigentlich jedes Schamgefühl verloren? Auf die Leiden des griechischen Volks gibt es nur zwei Antworten – einen sofortigen Schuldenschnitt und die sofortige Rückzahlung der deutschen Schuld in Athen. Alles andere ist purer Zynismus.

5 Kommentare zu Die Wahrheit über Griechenland – die wir nicht sehen wollen

  1. Und das sind die “Zahlen des Elends”, wenn man sie überprüft: 2014 starben in Griechenland 4,78 Kinder pro 1000 Einwohner. Zum Vergleich, in Polen waren es 6.19 Kinder (www.indexmundi.com/g/r.aspx?v=29&l=de). Und bei der Geburtenrate lag Griechenland 2014 mit Rang 213 immer noch vor Österreich auf Rang 214 und Deutschland auf Rang 219 (www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/rankorder/2054rank.html). Und für solch einen Artikel wird eines meiner Griechenlandbilder von Santorin verwendet.

  2. Herr Tausch, unsere Zahlen stammen von “Médécins sans Frontières”, einer NGO, die durchaus für ihre Seriosität bekannt ist, sowie aus den Recherchen des zitierten Films. Wenn es Sie stört, dass wir unter Einhaltung der Lizenzbestimmungen ein Foto von Ihnen verwendet haben, können wir dies gerne nachträglich austauschen. Sagen Sie uns einfach Bescheid.

  3. Ich habe nichts dagegen, dass meine Fotos (lizenzkonform) verwendet werden, dafür habe ich sie ja hochgeladen. Ich habe aber etwas dagegen, dass in Artikeln über Griechenland an Hand irgendwelcher Quellen, die nicht mit allgemein verfügbaren Statistiken gegengecheckt wurden, so getan wird, als wenn wir (Deutschland, die EU, wer auch immer) Griechenland ins Elend stürzen würden, nur weil das normalste der Welt verlangt wird, nämlich dass ein Land, das Schulden aufgenommen hat, diese auch zurückzahlt. Griechenland gehört durch die gegenwärtige Politik noch lange nicht zu den ärmsten Ländern der Welt. Den Status eines “Dritte-Welt-Landes” hat Griechenland vor 40 bis 50 Jahren hinter sich gelassen, was auch auf die Integration in die EWG zurückzuführen ist, und auf diesen Status (sprich Lebensstandard vor 40 Jahren) ist das Land bis heute nicht zurückgefallen.

  4. Ich sehe gerade, der Link zum World Factbook ist nicht erreichbar, deshalb hier die archivierte Seite: web.archive.org/web/20150912103330/https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook//rankorder/2054rank.html

  5. Nachtrag: Interessant in diesem Zusammenhang der Artikel im Tagesspiegel “Die Mär der toten Babys” vom 9. Juli 2015 (www.tagesspiegel.de/wissen/falsche-fakten-ueber-die-griechenland-krise-die-maer-der-toten-babys/12034708.html).

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