Die Woche, in der wir das Fürchten lernten

Die Anschläge von Paris, aber auch die Zwischenfälle vom Dienstag in Hannover, haben uns ins Mark getroffen. Jetzt heißt es kühlen Kopf zu bewahren und zu lernen, mit der Angst umzugehen.

"Freiheit statt Angst" - dieser Slogan einer Demo 2009 ist heute aktueller denn je. Foto: Jürgen Brocke from Germany / Wikimedia Commons / CC-BY 2.0

(KL) – Für niemanden ist die Welt seit letztem Freitag mehr die gleiche wie zuvor. Nach den schockierenden Nachrichten und Bildern aus Paris folgten diese Woche, live und zur besten Sendezeit, ebenso schockierende Bilder aus Hannover, wieder aus Paris, aus Aachen, aus Brüssel – die Angst hat sich in Europa breit gemacht. Doch genau jetzt müssen wir aufpassen, dass diese Angst, die auch von den Regierungen durch deren martialisches Auftreten weiter geschürt wird, nicht in einen dumpfen Rassismus umschlägt – die ersten Anzeichen dafür sind schon diese Woche sichtbar geworden.

Wie geht man um mit dieser Angst, die ins tägliche Leben Einzug gehalten hat? Verdrängen kann man sie nicht, man spürt sie, wenn ein Krankenwagen mit Sirene vorbei fährt und man unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern zieht, man spürt sie, wenn fremd aussehende Menschen in die Straßenbahn einsteigen und die Fahrgäste verstohlene Blicke auf deren Rucksäcke werfen, man spürt sie, wenn Polizisten mit kugelsicherer Weste und Maschinenpistole an der Grenze stehen und in jedes Auto schauen,man spürt sie, wenn man die Nachrichten anschaltet. Doch was tun? Die Antwort ist leichter gesagt als umgesetzt – lernen, damit zu leben.

Die Terroristen des IS wollen unsere Gesellschaften ebenso zerreißen, wie die zahllosen Konflikte im Mittleren und Nahen Osten ihre Gesellschaften zerrissen haben und dahinter steckt eine perfide Strategie – je gespaltener unsere Gesellschaft reagiert, je mehr wir die hier lebenden Flüchtlinge ausgrenzen, desto einfacher fällt es den Terroristen, ihre Basis in unserem Hinterland zu etablieren. Je hasserfüllter wir mit ausländischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen umgehen, die zum großen Teil selbst vor der Gewalt in ihren Ländern fliehen mussten, desto einfacher fällt es den Terrorgruppen, diese Menschen bei uns zu radikalisieren und für ihre Zwecke zu missbrauchen. Um das zu verstehen, muss man nur die Lebensläufe der Terroristen anschauen, die, bevor sie sich radikalisierten, bei uns ein perspektivloses Dasein fristeten.

Es war ein Fehler, dass wir in den letzten Jahrzehnten überall in Europa Ghettos geschaffen haben, die Molenbeek, Barbès, Kreuzberg, Marxloh und anders heißen – denn genau in diesen Vierteln der Städte haben die radikalen Verführer heute ein leichtes Spiel. Zu lange haben wir Zuwanderer als billige Arbeitskräfte, nicht aber als Mitglieder unserer Gesellschaft betrachtet und zugelassen, dass sich im Herzen dieser Gesellschaft Parallelwelten gebildet haben. Will man langfristig diese Fehler reparieren, wird man komplett umdenken müssen.

Vor allem müssen wir uns vor diesem dummen, dumpfen Rassismus in Acht nehmen, der sich gerade überall in Europa breit macht, in Frankreich mit dem Front National, der kurz davor ist, am 6. und 13. Dezember in Frankreich einen erdrutschartigen Sieg davon zu tragen, in Deutschland mit der „Pegida“ und der „AfD“, die eben gerade keine Alternative für Deutschland darstellen. Niemand sollte sich von diesen Nationalkonservativen in die Irre führen lassen – ihr Konzept stellt keine Lösung, sondern den endgültigen Bruch unserer Gesellschaften dar. Denn natürlich haben diese Rechtsextremen keinerlei Konzept, wie man die Welt befrieden kann, alles, was sie können, ist den Hass weiter zu schüren und noch mehr Katastrophen auszulösen.

Gerade jetzt ist der Zeitpunkt, zu dem wir auf alle Mitglieder unserer Gesellschaft zugehen müssen, wobei klar ist, dass auch die Zuwanderer und Flüchtlinge in dieser Situation in der Pflicht stehen, ebenso auf den Rest der Gesellschaft zuzugehen. Alleine der Dialog und der Austausch zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen kann dazu beitragen, die Angst vor dem Anderen abzubauen – und das setzt voraus, dass alle über ihren Schatten springen.

In diesen Tagen eröffnen die ersten Weihnachtsmärkte, am Wochenende stehen Sportveranstaltungen statt, in den Städten sind die Menschen unterwegs und genau das muss auch so sein. Gehen wir aufeinander zu, sprechen wir miteinander, zeigen wir uns gegenseitig unsere Solidarität, unser Mitgefühl, unsere Menschlichkeit. Das wäre eine weitaus wirksamere Waffe gegen den Hass, die Gewalt und den Terrorismus als das Abwerfen von Bomben über einem Land, das ohnehin schon von der Gewalt in seine Einzelteile zerlegt worden ist. Nutzen wir die Chance, näher zusammenzurücken, bevor das passiert, was Rainer Werner Fassbinder einmal in einem Filmtitel so treffend ausgedrückt hat: „Angst essen Seele auf“. Und diesen Triumph sollten wir den Terroristen nicht gönnen.

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