Die Wolken belauschen

Das Straßburger Ensemble Accroche Note hat eine CD mit den Werken des lothringischen Komponisten Pascal Dusapin eingespielt. Über die Wolken: Gedichte von Goethe in neuer Vertonung von einem der originellsten Klangkörper der elsässischen Hauptstadt.

Accroche Note, das Ensemble um Francois Kubler und Armand Angster, hat Kammerwerke von Pascal Dusapin eingespielt - Musik wie Regenwolken. Foto: Accroche Note und Pascal Dusapin Tac Nowland / MM

(Michael Magercord) – Die zeitgenössische klassische Musik ist eine verlorene Kunst. Sie interessiert sich nicht für die natürlichen Strömungen ihrer Zeit, dazu ist sie einfach zu verkopft und entrückt, und dazu noch festgefahren in einem sturen Akademizismus…

Ausgerechnet der zeitgenössische Komponist Pascal Dusapin hatte vor ein paar Jahren in einem Interview der zeitgenössischen Klassik dieses Zeugnis wenn zwar auch nicht ausgestellt, so doch unterstellt: dass nämlich die meisten Musikhörer die meisten der ach so modernen Werke betrachten würden, als schwebten sie bloß in den Wolken weit über der irdischen Wahrnehmungszone – ob es den Komponisten gerade deshalb gereizt hatte, den Gedichtzyklus „Wolken“ von Wolfgang von Goethe in zeitgenössische Musik zu setzen?

Ausgerechnet Pascal Dusapin also begibt sich in die hohe Welt der Wolken, ist er doch einer der wenigen zeitgenössischen Komponisten ist, dessen Werke ihr Publikum in irdischen Gefilden finden. In Konzertsälen und Opernhäusern finden seine Werke große Beachtung, und tatsächlich ist er einer der wenigen seiner Zunft, der ohne akademische Ehren und ohne amtliche Bestallung seine materielle Existenz nur der eigenen Produktivität verdankt. Und das, obwohl seine Werke kaum als einfache Kunst gelten dürfen. Geschult in Seminaren bei Olivier Messiaen und Iannis Xenakis ist er ein sorgsamer polyphoner, rhythmisch hochkomplexer Tonsetzer mit einer – wie es der akademischen Diktion heißt – „verästelter Kontrapunktik“, und bei Versuchen, diese Musik einer Kategorie zuzuordnen, sprechen die Versucher von ihrer Zugehörigkeit zu einer „mathematisch-intellektuellen Strömung“.

Gemach, denn so mancher elsässischer Meloman wird den lothringischen Komponisten ohnehin aus etlichen Konzerten des Festivals MUSICA oder der Oper Penthesilea und dem Liederzyklus „Oh Mensch“, die beide in der Rheinoper dargeboten wurden, schon kennen. Und nicht zuletzt hat auch das Straßburger Ensemble Accroche Note zur Bekanntheit des Komponisten beigetragen.

Auch diese außergewöhnliche Formation um die Klarinette von Armand Angster und die Sopranstimme von Françoise Kubler ist ein Dauergast beim Festival MUSICA. Die beiden haben zudem das jährliche Kammermusik-Treffen in der Kirche Bouclier ins Leben gerufen und erteilen regelmäßig ihre Sommerakademie beim Strandmusik-Festival in Bangor auf der bretonischen Insel Belle-Ile. Zur Besetzung von Accroche Note gehören noch das Cello von Christophe Beau und natürlich das feine Klavier des Wilhem Latchoumia.

In dieser Zusammenstellung haben sie die Kammerwerke von Pascal Dusapin eingespielt: das Trio Rombach, das Klavier-Klarinetten-Duo „By the way“ und den Zyklus „Becketts Knochen“ mit Liedern, die zwar vom Autor des ewigen Wartens auf Godot inspiriert wurden, aber wegen der unbezahlbaren Rechte an dessen Texten sich Gedichte aus dem elisabethanischen Zeitalters zur Grundlage ihrer mal zarten, fast schon abwartenden, dann wieder aufbrausenden und deklamtorischen Kompositionen genommen haben.

Und dazu noch Goethes „Wolken“. Mathematisch, intellektuell, verträumt? Goethes Gedichte beziehen sich auf den Naturbeobachter und Wissenschaftler Luke Howard , der 1803 die erste Wolkenklassifizierung unternahm. Form und Bewegung machen aus den fliegenden Feuchtigkeitsspeichern Stratus, Cumulus, Cirrus und Nimbus. Genauso sind auch die kurzen Texte und Lieder betitelt, die mit dem zurückhaltend durch Klavierarpeggien untermalten Sopransprechgesang das Wesen der Wolken einfangen. Ein Wesen nämlich, das widersprüchlich ist und nicht nur als poetische Gestalt auftritt, sondern auch als Störenfried, der die Sicht auf den weiten Himmel verhindert oder gar seine Schleusen öffnet und als Unwetter eine zerstörende Kraft entwickeln kann.

Ein Wesen, das also auch ein wenig jenem der Musik entspricht: flüchtig wie die Wolken und doch auch mit der Kraft, die Wahrnehmung zu verstören und somit zu schärfen: „Zeuge vom Ablauf der Dinge zu sein, heißt zunächst, sie wahrzunehmen“, sagt Komponist Pascal Dusapin – und wenn man schon nicht ins Konzert gehen kann und eine Aufführung auf der Bühne ein reines Gespinst zu bleiben scheint, dann kann man nun auf der CD die Wolken belauschen, diese – frei nach Goethe – Gespenster, die Gespenster zu bilden scheinen.

Ensemble Accroche Note
Françoise Kubler / Sopran
Armand Angster / Klarinette
Christophe Beau / Cello
Wilhem Latchoumia / Klavier

CD mit Kammermusik von Pascal Dusapin
Erschienen im Label Tac/Nowlands 2020

Infos und Hörbespiele unter:
www.accrochenote.com
www.nowlands.fr

Und sollte aus dem Gespinst wieder Realität werden und die Gespenster der Musik dann wieder ihre Gespenster auf der Bühne bilden dürfen, ist dieser Termin unbedingt einzuplanen:

Konzert mit Accroche Note/Martin Matalon

DI 9. Februar 2021
in der Musikhochschule von Straßburg Cité de la Musique et de la Danse

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