Digitales Europa: Ein Zückerchen für ein Hämmerchen

Das Europäische Parlament beschließt sein Verordnungspaket für den „digitalen EU-Binnenmarkt“. Dafür, dass man künftig günstiger im Ausland telefonieren kann, führt die EU eine Zweiklassen-Gesellschaft im Internet ein.

Die Geschwindigkeit wird das Problem der neuen Zwei-Klassen-Gesellschaft im Internet. Foto: Maik Schwertle / www.pixelio.de

(KL) – Der ausgewiesene IT-Spezialist Günter Oettinger, der in der EU-Kommission erstaunlicherweise für den digitalen Binnenmarkt zuständig ist, wollte das Thema noch abmindern, als er die künftig im Internet bevorzugt behandelten „Sonderdienste“ auf medizinische und andere Notfalldienste beschränkt sehen wollte. Warum das dann nicht in der gestern vom EU-Parlament in Straßburg verabschiedeten Verordnung steht, ist weiterhin unklar. Genauso unklar wie die Frage, warum die weitere Abschaffung der Roaminggebühren gemeinsam mit der Frage der „Netzneutralität“ abgestimmt werden musste – beide Themen haben nur sehr peripher miteinander zu tun und wären sinnvollerweise getrennt voneinander besprochen und abgestimmt worden.

Fangen wir mit dem „Zückerchen“ an – die Roaminggebühren sollen weiter sinken. Ab dem 30. April 2016 dürfen im Ausland angenommene Telefonate den Angerufenen nicht mehr als 0,05 € Roaminggebühr pro Minute kosten, eine ankommende SMS 0,02 € und ein MB Daten 0,05 €. Und bis zum 15. Juni 2017 sollen die Roaminggebühren dann ganz wegfallen. Sofern die mächtigen Telekommunikationslobbys das zulassen. Bis dahin stehen allerdings noch zahlreiche Verhandlungsrunden mit der Industrie an, speziell, was den „Großkunden-Roamingmarkt“ angeht, also die Preise, die ein Netzbetreiber einem anderen in Rechnung stellt, wenn dessen Kunden das Netz des jeweils anderen nutzen und man darf davon ausgehen, dass auch hier die Lobbys wieder einmal dafür sorgen werden, dass das, was Günter Oettinger gestern „einen ausgewogenen Kompromiss zwischen den Interessen der Wirtschaft und der Verbraucher“ nannte, am Ende doch noch zugunsten der Wirtschaftsinteressen ausfällt. Das ist nämlich in Europa meistens so.

Dieses „Zückerchen“ erhielt allerdings gestern in Straßburg einen gehörigen Dämpfer, denn die Abstimmung war an das Thema der „Netzneutralität“ gekoppelt, ein Thema, zu dem noch in der Nacht vor der Abstimmung der „Erfinder“ des Internets, Tim Berners-Lee aus den USA gewarnt hatte, dass der vorliegende Text das Zeug hat, „die Innovation, die Meinungsfreiheit und den Datenschutz“ im Internet zu gefährden. Das war dann aber ein wenig zu viel der Expertise für die Europaabgeordneten, die kurzerhand sämtliche Änderungsanträge an dem Text der neuen Verordnung ablehnten. Mit dem Hinweis, dass die EU-Mitgliedsstaaten immerhin die Möglichkeit hätten, Verbesserungen bei der Umsetzung der Verordnung in nationales Recht vorzunehmen. Nur – warum nicht diese Verbesserungen in der Verordnung festschreiben? Meint das Europäische Parlament etwa, dass in deutschen, belgischen, kroatischen oder dänischen Gerichten mehr IT-Fachverstand vorherrscht als bei ihnen?

Der Text zur „Netzneutralität“, der gestern im Parlament durchgewunken wurde, klingt auf den ersten Blick richtig nett. So kann man dort nachlesen: „Anbieter von Internetzugangsdiensten behandeln den gesamten Verkehr bei der Erbringung von Internetzugangsdiensten gleich, ohne Diskriminierung, Beschränkung oder Störung, unabhängig vom Sender und Empfänger, den abgerufenen oder verbreiteten Inhalten, den genutzten oder bereitgestellten Anwendungen oder Diensten oder den verwendeten Endgeräten.“ So weit, so gut. Der Haken steht im Kleingedruckten. Denn Anbieter sollen künftig den Datenverkehr doch regeln dürfen und zwar für so genannte „Spezialdienste“. Zwar ist gefordert, dass die höhere Bandbreite und Geschwindigkeit, die für diese „Spezialdienste“ bereitgestellt wird, den übrigen Datenverkehr im Internet nicht beeinträchtigen darf, aber weisen Sie das mal nach…

Denn auch, wenn Günter Oettinger der Ansicht war, dass es sich bei diesen „Spezialdiensten“ nur um „Gesundheits-, Notruf- und Mobilitätsdienste“ handeln soll, könnte es ja durchaus sein, dass große Anbieter eher der Ansicht sind, dass ihre kommerziellen Angebote wie Videos und andere Steams „speziell“ sind und daher Vorfahrt auf der Datenautobahn haben werden. Da in der abgesegneten Verordnung aber nichts steht, was wie eine Definition aussieht, war die gestrige Abstimmung in erster Linie eines – ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Juristen. Die über Jahre hinweg die Gerichte behelligen werden, damit am Ende die großen Anbieter ihre kommerziellen Angebote dann eben doch mit Vorzugsgeschwindigkeit über das Netz jagen können – und schon haben wir genau das, was man eigentlich vermeiden wollte: die Zweiklassen-Gesellschaft im Internet.

Was zunächst nur ärgerlich klingt, kann bei näherem Hinsehen richtig schädlich sein – denn weder Start-Ups noch kleineren Anbietern, von Privatpersonen, Bloggern etc. ganz zu schweigen, werden künftig solche Hochgeschwindigkeits-Möglichkeiten zur Verfügung stehen und genau da befindet sich die „Innovationsbremse“, von der Tim Berners-Lee gesprochen hatte. Denn wenn neu entwickelte Dienste und Anwendungen nur noch auf der Daten-LKW-Spur unterwegs sein können, bremst dies Entwickler und Entwicklungen aus, mit dem Ziel, dass die großen Anbieter weiter gute Geschäfte machen können.

Die neue Verordnung klingt wieder einmal so, als habe sie eine Handvoll Lobbyisten geschrieben – im Interesse der Europäerinnen und Europäer liegt sie gewiss nicht. Da tröstet auch die Absenkung der Roaminggebühren wenig und man fragt sich, ob es unter den 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern in Europa wirklich keinen kompetenteren Experten gab, den man mit der Entwicklung des digitalen EU-Binnenmarkts beauftragen konnte als ausgerechnet Günter Oettinger, der kaum in der Lage ist, die englische Fachliteratur zu lesen und von IT offen gesagt ebenso viel Ahnung hat wie von der Weltraumforschung. Einmal mehr rächt sich, dass politische Verantwortung in Europa immer noch oft in Hände gelegt wird, denen man in ihren Ländern genau diese nicht mehr anvertrauen möchte. Wenn Europa eines Tages das Vertrauen seiner Bürgerinnen und Bürger zurück gewinnen will, müssen die EU-Mitgliedsstaaten damit aufhören, die europäischen Institutionen als „Parkplatz“ für daheim ausrangierte Politiker zu missbrauchen. Die neue Verordnung zum digitalen EU-Binnenmarkt ist dafür leider wieder ein brauchbares Beispiel.

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