Du hast keine Wahl: Der Zettel, der zum Spiegel wird

Schon wieder ein Schicksalswahl, dieses Mal im Bundesland Hessen. Schicksal aber für wen? Und wer spielt Schicksal? Das Schicksal!

Freund oder Feind? Der Stimmzettel ist geduldig... Foto: MM / Wikimedia Commons

(Von Michael Magercord) – Obwohl so manche Parteien gerade dabei sind sich von ganz allein überflüssig zu machen, so legen sie ihr Schicksal letztlich in die Hand des Wählers. Dessen Verdikt aus der Wahlurne entscheidet über Wohl und Wehe der zur Wahl stehenden Formationen und Kandidaten. Aber wie tut der Wähler das? Was bestimmt seine Auswahl? Wie wählerisch wird er sein und was ist daran so quälerisch?

Der Moment in der Wahlkabine ist ein einsamer. Der vielleicht einsamste im politischen Leben eines jeden Bürgers einer liberalen Demokratie. Da steht er mit dem Stift in der Hand, vor ihm dieser Zettel, der alles entscheidet – Schicksal spielen mit nur einem Kreuz. Und so stellt man sich diesen Moment vor: Breitbeinig ins Wahllokal treten, den Kuli zücken und wisch und weg das Kreuz gemacht, ab in den viel zu kleinen Umschlag mit dem sperrigen Wahlzettel, noch durch den viel zu engen Schlitz in die Urne stopfen und fertig. Aber die Realität ist eine andere: Zettel in die Kabine genommen, Vorhang zugezogen und dann geht’s los, das große Rätselraten: Wer bin ich?

Der Wahlzettel ist nämlich ein Spieglein, in dem sich der Wähler wieder erkennt. Sobald er die lange Liste der möglichen Entscheidungen durchsieht, rumort es in ihm: welche Partei passt zu mir? All diese Kürzel, die für gewichtige Adjektive stehen: christlich, sozial, frei, alternativ; oder Worte, die für Eigenschaften und Richtungen stehen: grün, links; oder gar Hauptworte, die für Berufsgruppen – Piraten – oder Revolutionen – Grundeinkommen – stehen.

Jetzt wird es ernst, der Augenblick der Entscheidung ist gekommen. Doch aufgepasst bei der Parteienwahl, denn dieses Kreuz bin ich! Im übertragenen Sinne zumindest, weil es ja eher derjenige ist, für den ich mich halte. Oder der ich sein will. Kurz: dieses Kreuz zeichnet mein Selbstbildnis, das ich von mir habe.

Und wie will ich sein? Fortschrittlich und der Zukunft zugewandt? Oder will ich als Angst besessener, wutentbrannter Nörgler vor mir erscheinen? Oder wäre es ein Eingeständnis ein Verlierer zu sein, wenn ich Parteien wähle, die vorgeben, für die „kleinen Leute“ zu streiten? Gehöre ich nicht auch zu den Opfern dieser Gesellschaft, unterdrückt, ausgegrenzt und diskriminiert? Nein, ich doch nicht, denn vom Typ her bin ich ja eigentlich so’n erfolgreicher Unternehmer, so einer, der dann über die ach so schlimmen Steuerlast klagen würde, nur halt einer ohne Unternehmen, also noch… Oder bin ich vielleicht doch eher ein etwas ruhigerer Typ, bisschen faul, sollte ich nicht…

…so kann es dann den ganzen Wahlzettel weitergehen, und wer sich schon immer gefragt hat, wie es kommt, dass so viele Menschen gegen ihre ureigenen Interessen stimmen, dem gibt das als Wahlzettel getarnte Spieglein die Antwort. Doch bevor die Wahlkabine zum Gruselkabinett der Selbstbildnisse wird, aus dem dann das Gruselkabinett in der Regierung wird, sollte man sich der großen Herausforderung des einsamen Wahlaktes bewusst geworden sein, die daran besteht, sich danach immer noch in Spiegel gucken zu können. Also den richtigen in der heimischen Nasszelle natürlich. Der lässt unsereinem dann allerdings keine Wahl mehr.

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