Durchgeknallt sind wir doch alle

Erschütternd, wenn sich die Autorin nur kurze Zeit nach der Vollendung eines Theaterstücks über ihre eigenen Psychosen das Leben nimmt. Wie viel Erschütterung kann eine Oper darüber hinaus noch auslösen? Und wozu?

Szene aus der bedrückenden Oper "4.48 Psychosis". Foto: Stephen Cummiskey ROH

(Von Michael Magercord) – Das Gefühl, mit dem man ins Theater geht, um ein Stück mit dem Namen „Psychose“ zu sehen, ist nicht unbedingt von der üblichen Vorfreude auf einen unterhaltsamen Abend geprägt. Mulmig wird es geradezu, wenn man dann noch weiß, dass das Werk kein Theaterstück, sondern ein Abriss der psychotischen Schübe seiner Autorin ist. Und was geht in dem Theatergänger vor, wenn er schließlich erfährt, dass sich die seinerzeit gerade einmal 28-Jährige kurz nachdem sie ihre psychotischen Wahrnehmungen aufgezeichnet hat, das Leben nahm…

Warum soll ich mir das antun? Ein Opernabend, der aus nichts weiter besteht, als aus Monologen einer depressiven jungen Frau und ihren wahnhaften Dialogen mit einem unbestimmten Gegenüber: „Psychosis 4.48“. Das Theaterstück, das der Kammeroper zugrunde liegt, ist benannt nach der Uhrzeit, an der die Wirkung der Medikamente nachließ. All morgendlich um Viertel vor fünf überkamen die Bühnenautorin Sarah Kane ihre Wahnvorstellungen. Sie schrieb ihre zwanghaften Gedanken auf, umgehend, Schreibschübe geradezu, aus denen ihr Stück besteht.

Wie wir bereits erfahren haben, brachte sich Sarah Kane kurz danach um. Die Aufzeichnung der nötigenden Gedankengänge taugte scheinbar nicht zu ihrer Bewältigung. Vielleicht sogar im Gegenteil bestätigte ihr die schriftliche Niederlegung die Aussichtslosigkeit, aus ihrer Krankheit entkommen zu können. Wäre es so, stellte sich dem Theaterzuschauer die Frage umso dringlicher: Warum soll ich, der ich doch nicht unter derartigen Zwängen leide, mich dieser letztlich aussichtslosen Qual aussetzen?

Depression wird auch als „Ich-Störung“ bezeichnet, das sogenannte „Ich-Erleben“ wird durch sie verhindert. Gestört ist die Eigenwahrnehmung als einheitliches Ich, als eine in einer festen Identität erlebte Person, die nach Außen eine in sich geschlossene Einheit zwischen Denken und Sein darstellt. Der Depressive ist fragmentiert, die Identität löst sich auf, die eigenen Gedanken sind vor Fremdzugriffen nicht mehr geschützt. Zwanghaft irrende Wahnvorstellungen bestimmen die Gedankengänge, die sich nicht mehr auf wenigstens halbwegs festen Bahnen bewegen.

So jedenfalls stellt man sich das vor und zumindest in dem Theaterstück von Sarah Kane ist es genauso: Monologe, die keinen linearen Zusammenhang haben, Dialoge, die kein Gegenüber finden. Fragmentierte Gedanken – die Kraft, sie irgendwie zusammenzuhalten, schwindet dahin; die Angst, die eigene Person verschwindet, wird übermächtig; die Identität ist zur Illusion geworden. Ein geordnetes Leben in der modernen Gesellschaft will dann nicht mehr funktionieren. Wohl auch, weil diese Gesellschaft und ihre funktionale Ordnung davon ausgeht, jeder Mensch verfüge über eine in sich geborgene Identität.

In einer von Traditionen oder Religionen bestimmten Gemeinschaft ist es möglich, seine Identität und vor allem Moralität zu wahren, indem man artig deren Vorgaben befolgt und ihre Beicht- und Vergebungsangebote nutzt. In einer modernen Gesellschaft aus mündigen Individuen ist für die Bewahrung des Ichs jeder selbst zuständig. Das Menschenbild, das ihrer gesellschaftlichen Ordnung zugrunde liegt, ist die widerspruchsfreie Persönlichkeit: Denken, Reden, Handeln vermag demnach ein einmal modern gewordener Mensch Dank seiner gewonnenen Freiheit und des mündigen Gebrauchs seines Verstandes zur Einheit zu bringen – mehr noch: ein moralisch einwandfreies und dabei selbstbestimmtes Leben scheint jetzt möglich. Das alles wird zur Illusion, wenn die Gedanken sich selbstständig machen und letztlich verzweifeln an der Welt – und vielleicht gerade deshalb, weil diese moderne Welt eben gar nicht so widerspruchsfrei ist, wie sie es für sich beansprucht.

Aus dem Theaterstück, das bereits 1999 uraufgeführt wurde, ist 2016 eine Oper geworden. Sie wird nun am Mittwoch im Rahmen des MUSICA-Festivals an der Oper von Straßburg ihre französische Premiere erleben. Der Bruder der Autorin hatte den Komponisten Philip Venables ausdrücklich um die Vertonung gebeten. Mit großem Respekt vor den Texten hat er ihre Wirkung mithilfe der Musik verstärkt, die mal in neo-romantischen Arien, mal mit Anklängen von Bach oder auch quälenden Violinenklängen die widersprüchlichen Gefühlswelten und die Sprünge von der einen in die andere nachvollzieht. Die Inszenierung des Amerikaners Ted Huffman, die bereits in London und New York gezeigt wurde, kommt ohne unnötige Effekthascherei aus und beschränkt sich auf das Wesentliche: die Darstellung der Angst, Traumata, der quälenden Erinnerung und Hoffnungslosigkeit ihrer Figuren, denen der Zuschauer und Zuhörer auf diese Weise unmittelbar ausgesetzt ist.

Bleibt die Frage: Warum soll ich mir das antun? Nur um zu erfahren, was man sowieso schon ahnt: nämlich wie fließend die Grenze zwischen der Identität des Ichs und seiner Auflösung ist. Oder lässt das mündige und selbstständige Denken nicht noch einen weiteren Schritt zu: Nämlich den, dass der Preis für meine Normalität die Verrücktheit der Gesellschaft ist – oder wie Marcel Proust es ausgedrückt hatte: “Klar nennt man Ideen, die dasselbe Maß an Verwirrung haben wie unser eigene Geist“.

Unsere Verwirrung und unser Wahnsinn äußern sich kollektiv, in einer Lebensart, die die natürlichen Grundlagen des Lebens zerstört und somit im Widerspruch zu sich selbst steht. Viele Ängste, die uns kollektiv umtreiben, sind Scheinängste, basieren auf Wahnvorstellungen, die uns zu jener Weise des Lebens und Wirtschaftens treiben, die uns letztlich schadet. Ahnen wir vielleicht schon, wie nah wir vor der Auflösung dieser kollektiven Identität stehen? Und wenn, sollten wir nicht versuchen, diese Auflösung ohne große psychotische Schübe zu überstehen? Dazu könnte es eben doch nützlich sein, sich die Fragilität des Menschen vor Augen zu führen und sich so auch über die Widersprüchlichkeit des gesellschaftlichen Lebens bewusst zu werden, und sei es nur, um das Chaos seiner Auflösung besser ertragen und vielleicht sogar bei gegenseitiger Bewahrung der Würde bewältigen zu können.

Zugegeben, das ist ein bisschen viel für einen eineinhalb stündigen Opernabend. Aber vielleicht reicht es ja zunächst auch, wenn ich nach der Vorführung einer quälenden, inneren Auflösung wenigstens mir selbst meine innere Widersprüchlichkeit ein- und schließlich auch zugestehe.

4.48 Psychosis
Kammeroper in 24 Szenen von Philip Venables
Libretto von Sarah Kane

Musikalische Leitung: Richard Baker
Inszenierung: Ted Huffman
Philharmonie Straßburg

MI 18. September, 20 Uhr
FR 20. September, 20 Uhr
SA 21. September, 20 Uhr
SO 22. September, 15 Uhr
Opéra Strasbourg

Informationen und Tickets unter: www.operanationaldurhin.eu
Programm des Festivals MUSICA unter: www.festivalmusica.fr

Weitere Veranstaltung:
Concert d’ouverture – das große Eröffnungskonzert der Rheinoper
MI 25, und DO 26. September in der Oper Straßburg,
FR 28. in Mülhausen La Filature, jeweils 20 Uhr.

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  1. Die Welt der Oper schaut auf dieses Haus | Eurojournalist(e)

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