Ein Foto kommt selten allein

Das Straßburger Fotofestival prägt schon zum vierten Mal unsere visuelle Wahrnehmung im Monat März: an 50 Orten in der gesamte Stadt werden die zeitgenössischen Bildwerke von 70 Fotografen ausgestellt

Ein Foto hat immer den Betrachter im Blick - Strasbourg Art Photography 2020. Foto: Ryo Tomo SAP

(Von Michael Magercord) – Soviel Foto war nie: Das Foto ist das Wort unserer Zeit, die Bilderflut der Redeschwall von heute. Jeder Text, auch dieser, der nun über das Phänomen der Macht der Bilder folgen wird, kann nicht annähernd die Wirkung von Fotos entfalten – nur dass man nicht wirklich weiß, wie die Bilder ihre Wirkung entfalten… aber ach, viel schlimmer noch: Man merkt gar nicht, wenn es soweit ist und ein Foto uns schon beim Wickel hat.

Was lernen wir in der Schule nicht alles über Literaturinterpretation und Textkritik, aber wir erfahren kaum etwas darüber, wie man mit dem Einfluss umgeht, die der Anblick eines Fotos auf uns ausübt. Dabei wäre die bewusste Bildrezeption vielleicht heutzutage von größter Wichtigkeit für die Aufrechterhaltung der demokratischen Idee eines mündigen Menschen. Für den Straßburger Bildinterpretationsexperten Guy Meyer, der Professor für Fotografie, Bildlehre und Multimediadesign der Sorbonne in Paris war, ist die Theorie der Fotografie die entscheidene Disziplin bei dem Versuch, dem Wesen unseres Zeitalters auf die Spur zu kommen.

Das Foto hat das Wort als Träger des kollektiven Gedächtnisses und des gesellschaftlichen Diskurses ablöst. Immer ist ein Bild im Spiel, wenn etwas gesagt oder geschrieben wird, denn jedes Wort erweckt im Kopf ein Bild. Der Text ist machtlos gegenüber dem aufkommenden Bild, das er durch seine Botschaft selbst erzeugt hat. Der Text ist das Offene, das Bild das Geschlossene – und somit mächtiger als der Text, weil es sich der Kontrolle durch den Text entzieht. Aber das Wissen um die Wirkung von Bildern ist nach wie vor nur wenig verbreitet.

Ob die Bilder, die nun den Diskurs bestimmen, letztlich virtuell oder reell sind – diese Frage stellt sich für Guy Meyer nicht: ein Bild ist immer beides und deshalb so wirkmächtig. Jeder bildliche Eindruck ist eine Realität in sich. Das Foto selbst ist kein Abbild der Realität, im Gegenteil, es symbolisiert den Zusammenbruch der Realität. „Ein Foto ist bloß ein plattes Abbild, ein visueller Lapsus, der unsere Vorstellungskraft missbraucht und unsere Wahrnehmung zum Narren hält”, sagt Guy Meyer. Doch genau darin liege nun der Schlüssel zur mündigen Bildrezeption: Jedes Bild, das unsere Wahrnehmung einfängt, ist nämlich gleichsam ein Spiegel, der uns einen Blick in unsere eigene Narretei erlaubt.

Soweit erst einmal dieser Text über das Wesen des Fotos. Der hat natürlich auch schon wieder Bilder hervorgerufen, auf die er keinen Einfluss hat – eine Ansicht von einem Labyrinth vielleicht… aber ach, so schlimm ist es nun auch wieder nicht: denn immerhin bringt uns ja ein bewusster Blick in den Spiegel, den jedes Foto bietet, eine Antwort auf die Kernfrage aller Bildrezeption näher: Wie entwickelt sich das Zusammenspiel zwischen dem, was wir da jetzt sehen, und dem, was wir vorab schon davon wussten? Diesen unsichtbaren Teil des Sichtbaren gilt es nun im Foto aufzuspüren: „Vor dem Foto existiert immer etwas, was erst dazu geführt hat, dass es überhaupt zum Bild wurde, was dann aber nicht mehr auf dem Foto zu sehen ist. Das muss ich entdecken, dann weiß ich, was ich denke“.

Na also, es gibt eben doch eine theoretische Möglichkeit, sich dem übermächtigen Sog der Bilder entgegenzustellen. Und in Straßburg haben wir nun auch noch die Chance, uns gleich praktisch darin zu üben. Denn am 28. Februar wird die vierte Ausgabe der Straßburger „art photographie“ beginnen und danach werden in der ganzen Stadt über den ganzen Monat März Fotowerke von Fotografen aus – fast – der ganzen Welt präsentiert. Neben bekannten Galerien werden auch so manche dafür eher ungewöhnliche Räumlichkeiten zu Ausstellungsorten von zeitgenössischer Fotografie.

Ryo Tomo, der als Sprecher und Vorsitzender des Organisationskomitees schon Überblick über die ausgestellten Werke hat, zog bei Vorstellung des Fotofestivals eine erste, noch vage Bilanz. Zwei Tendenzen nämlich seien zu beobachten: Fotos mit künstlerischen Blicken auf die Natur sind wieder verstärkt zu sehen, wohingegen der menschliche Körper als Bildobjekt nicht mehr im Vordergrund steht. Warum? Welche Rolle spielen dabei womöglich die gesellschaftlichen Debatten der jüngsten Zeit?

Aber ach, ob das wirklich so einfach ist mit den gesellschaftlichen Debatten und der Fotokunst? Einen Monat lang haben wir in Straßburg nun jedenfalls die wunderbare Gelegenheit, uns schöne Fotos zu betrachten, sich in ihren Bann ziehen zu lassen und das Bild vor dem Foto zu suchen – denn soviel Fotokunst war nie.

Strasbourg art photographie SAP
vom 28. Februar bis 31. März
Ausstellungen, Vernissagen und Schulprojekte rund um die Fotokunst

Offizielle Eröffnungsvernissage am 5. März
Restaurant Le Mandala, 14 rue du Faubourg de Saverne

Weitere Information unter www.strasbourg-artphotography.fr

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