Eine neue Erfahrung für Wolodomyr Selenskyj
Die erhoffte Einladung zum NATO-Beitritt gab es für Wolodomyr Selenskyj nicht. Erstmals handelt der Westen nicht auf Fingerschnippen des ukrainischen Präsidenten.
(KL) – Eigentlich hatte Wolodomyr Selenskyj damit gedroht, gar nicht erst in die litauische Hauptstadt Vilnius zu reisen, wenn dort nicht die von ihm gewünschten Entscheidungen getroffen würden. In den letzten 500 Tagen reichten solche subtilen Hinweise und sofort überwiesen seine Gesprächspartner Milliarden (deren Verbleib niemanden zu interessieren scheint) und schickten Waffen. Dabei stand zumeist die vollmundige Ankündigung der ukrainischen Propaganda im Raum, dass man mit diesen Hilfen die Russen ruckzuck aus dem Land werfen und den Krieg schnell beenden würde. Dass davon nicht viel stimmte, hat man gesehen. Doch sein Versuch, nun die NATO unter Druck zu setzen, hat keinen Erfolg gehabt. Im Gegenteil – in vielen europäischen Ländern beginnt man nun, den Wahrheitsgehalt der ukrainischen Propaganda zu überprüfen und das führt dazu, dass es im Westen niemand mehr so richtig eilig hat, die Ukraine in die westlichen Bündnisse aufzunehmen.
Dass Selenskyj alles daran setzt, die NATO aktiv in den Krieg zu involvieren, ist durchaus nachvollziehbar, denn die Ukraine hat selbst keine Chance, diesen Krieg gegen den russischen Aggressor militärisch zu gewinnen. Da wäre es aus ukrainischer Sicht natürlich gut, würden sich die NATO-Staaten direkt dort engagieren, wo die ukrainische Armee weder die Krim, noch den Donbass, noch die Ostukraine befreien kann, gleich, wie viele junge Ukrainer dabei auch in den Tod geschickt werden. Doch dass die NATO nicht unbedingt darauf erpicht ist, die Eskalation bis zum III. Weltkrieg zu treiben, ist aus westlicher Sicht eben auch nachvollziehbar und Wolodomyr Selenskyj macht erstmals die bittere Erfahrung, dass er eben doch nicht das Handeln der EU und der NATO alleine entscheiden kann.
Die Sprüche der letzten Tage sind reiner Politiker-Talk. „Die Ukraine verteidigt westliche Werte“, „Die Zukunft Europas ist die Ukraine“, „Europa sollte stolz darauf sein, die Ukraine bitten zu dürfen, der EU und der NATO beizutreten“ und was man dort alles hört. Nein, die Ukraine verteidigt keine westlichen Werte, sondern die verteidigt ihr Land gegen die russische Invasion. Das ist natürlich nachvollziehbar, hat jedoch mit „westlichen Werten“ in der hoch korrupten Ukraine nichts zu tun. Und warum man stolz sein sollte, ein Land zum Beitritt in EU und NATO einzuladen, wo heute noch Nazi-Kollaborateure als Nationalhelden verehrt werden, ist auch nicht so ganz klar.
Dass es Selenskyj weiter mit seinem europäischen Narrativ versucht, ist verständlich. Doch plötzlich funktioniert das nicht mehr so richtig. Konnte Selenskyj bislang bei jedem Gesprächspartner das herausholen, was er wollte, so fängt der Westen nun an Fragen zu stellen. Lohnen sich die Milliarden und zahllosen Waffensysteme, wenn die seit 5 Wochen laufende „Gegenoffensive“ so erfolglos verläuft? Der Preis für die Rückeroberung menschenleerer Dörfer ist extrem hoch und wenn man versucht hochzurechnen, was es an Menschenleben und Material kosten würde, eine echte Gegenoffensive zu fahren, dann muss man sich die Frage stellen, wie sinnvoll es ist, weiterhin blind Milliarden in ein Fass ohne Boden zu schütten, ohne dass die geringste Anstrengung unternommen wird, gleichzeitig realistische Friedensstrategien auszuarbeiten.
Für Selenskyj ist es eine neue Erfahrung, dass der Westen „nein“ sagt, auch, wenn dieses „nein“ hübsch verpackt wurde. Statt einer Einladung, sofort der NATO beizutreten, gab es für Selenskyj eine unverbindliche Ankündigung von Beitrittsgesprächen NACH Beendigung des Kriegs und auch nur dann, wenn die Bedingungen des Westens für einen Beitritt erfüllt sind. Und das wird eine Weile dauern, da die Ukraine eben in kaum einem Bereich die Standards der westlichen Bündnisse erfüllt.
Es wird immer deutlicher, dass das Fehlen einer europäischen Strategie (und einer entsprechenden Strategie der NATO) ein riesiger Nachteil ist. Warum sich Europa weigert, eine solche Strategie zu entwickeln, ist schleierhaft. Will man die USA nicht verärgern? Hat man Angst, dass Washington sauer ist, wenn Europa eine eigene Strategie zur Ukraine-Frage entwickelt? Aber andersherum – wie lange will sich Europa auf die Rolle eines Finanzierers und Erfüllungsgehilfen Washingtons reduzieren lassen? Europa, also die EU und auch die NATO müssen einen neuen Weg einschlagen, angesichts der Erkenntnis, dass dieser Krieg militärisch nicht ohne eine Eskalation zum III. Weltkrieg entschieden werden kann. Und je früher man Alternativen zur Vermeidung dieser Eskalation erarbeitet, desto besser. Doch steht zu befürchten, dass inzwischen derart viel Geld an diesem Krieg verdient wird, dass diejenigen, die dazu die Macht hätten, gar kein Interesse daran haben, dass dieser Krieg endet.
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