Elsass musste warten – sein bedeutendster Maler kehrt heim

Jean-Jacques Henner ist unser berühmtester Künstler. Nur wussten wir das bisher nicht. Eine große Ausstellung im Palais Rohan in Straßburg und im Kunstmuseum von Mülhausen bringt ihn – endlich! – in seine elsässische Heimat zurück.

Die wartende Elsässerin, links Gemälde von Jean-Jacques Henner. Ausstellung im Palais Rohan in Straßburg. Foto: Michael Magercord

(Michael Magercord) – Kaum war die große Ausstellung seiner Gemälde im Palais Rohan in Straßburg eröffnet, erhob sich die Frage: Ist Jean-Jacques Henner der bedeutendste Kunstmaler, den das Elsass hervorgebracht hat? Mit einem klaren „Ja“ beantwortete Museumsdirektor Paul Lang schon in seiner Rede zur Vernissage diese Frage – und die meisten Betrachter stimmten ihm nach ihrem Rundgang zu.

Dabei ist Jean-Jacques Henner ein weitgehend Unbekannter. Zumindest im Elsass. Denn seine großen Erfolge erzielte er in Paris. Dort verbrachte der gebürtige Sundgauer vom Jahr 1846 an die längste Zeit seines Lebens. Wie es sich damals für einen Maler gehörte, betreib er schließlich sein Atelier im Montmartre, wo er auch 1905 im Alter von 76 Jahren starb.

Mit Zeichenunterricht in Altkirch begann alles, nach der Kunsthochschule in Straßburg und Paris, wo er schnell ein gesuchter Portraitmaler wurde, kam er 1858 für einen Studienaufenthalt an der Villa Medici nach Rom – und dort sollte er sein zweites Lebensthema finden. Es waren die Werke von Tizian und Correggio, die ihn zur Darstellung von nackten Frauengestalten in Landschaften oder einem verschwommenem, dämmerigen Halbdunkel inspirierten. Und damit traf er den Nerv im Paris der Gründerzeit.

In den Salons dominierte die Akademiemalerei, technisch kunstvoll und der formalen Ästhetik genügende, fast fotorealistische Gemälde voller Allegorien und Mythen, überzogen von einem perfekten Firnis, die die groben Pinselstriche glättete. In dieser Kategorie fand Jean-Jacques Henner seinen Platz, ohne aber ihr wirklich zu entsprechen, denn seine Motive und ihre Form ließ sich schwer fassen: Seine Bilder zeigen nicht eine reine Romantik, sind aber natürlich auch nicht realistisch und gehören trotzdem nicht in den Symbolismus. Ein Idealist? Schon eher, vor allem aber kein Impressionist, kein unbedingter Neuerer. Das Ergebnis ist ein umfangreiches Œuvre von feinen Portraits, allegorischen Großgemälden und immer wieder Aktmalerei, die in den führenden Salons von Paris für Begeisterung sorgten.

Und so kommt es, dass selbst das einzige wirklich politische Bild, das der Elsässer Jean-Jacques Henner gemalt hat, so gar nicht garstig daherkommt. Es war die Zeit – wie man heute sagt – der Annexion, das Elsass wurde zusammen mit Lothringen als Reichsland Teil des Deutschen Reiches. Der Elsässer litt unter der – wie er sagte – „Besatzung“ seiner „kleinen Heimat“, blieb ihr aber immer verbunden. Die Sommer verbrachte Henner in seinem Haus in Bernwiller im Sundgau – und es war ein Damenclub aus Thann, der ihm 1871 den Auftrag für ein kleines Portrait einer jungen Elsässerin gab. Das Gemälde bekam den Titel „L’Alsace. Elle attend“, und Les Dames de Thann schenkten es Léon Gambetta. Elsass wartet, und der einstige Innenminister und strikter Gegner des Verzichtfriedens mit dem Deutschen Reich sah in dem sehnsüchtigen, doch etwas stumpfen Blick des Mädchens sofort auf wen: nicht auf einen Liebhaber, sondern auf ihre Mutter Frankreich.

Der Maler wiederum blieb Paris treu und Paris ihm: Er wurde 1889 ins Institut de France gewählt und wurde 1903 gar „Grand Officier de la Légion d’Honneur“. Und trotzdem geriet er als Künstler schon bald nach seinem Tod 1905 in Vergessenheit. Nicht die akademische Kunst bestimmte das künstlerische Nachbild der zweiten Hälfe des 19. Jahrhundert, sondern die Impressionisten und Pointillisten, zumal die feine Abbildungsmalerei bald von der Fotografie verdrängt wurde. Und hätte nicht die Ehefrau seines Neffen 1924 ein kleines, aber feines Museum in Paris eingerichtet, wären die Bilder ihres angeheirateten Onkels wohl endgültig in den Depots der großen Museen verschwunden.

Aus dessen Sammlung stammen auch die meisten der vielen Zeichnungen und der neunzig Gemälde, die nun in Mülhausen und Straßburg zu bestaunen sind. Mit den beiden Ausstellungen kehrt das Werk des Elsässers ins Elsass zurück, und man denkt unwillkürlich, ob sich in seinem Schaffen auch etwas spezifisch Elsässisches ausmachen lässt. Und vielleicht ist es ja dieses Beharrungsvermögen, bei dem einmal als schön entdeckten und empfundenen Althergebrachten zu bleiben und daraus dann trotzdem etwas ganz Eigenes zu machen.

So dürfen wir die Portraits und Frauenakten in schönster Ausführung bewundern, man fragt sich nur, ob man sich heutzutage noch so unbeschwert daran erfreuen kann wie damals. Aus der aktuellen Kunstfotografie ist die Aktdarstellung schon fast verschwunden, sie wendet sich – wie die Impressionisten seinerzeit – immer mehr der Natur zu. Der heutige Betrachter, der doch so einiges an Fleischesdarstellungen gewohnt ist, ist sich immer mehr bewusst, dass dabei auch Grenzen überschritten werden können. Nicht umsonst widmet der umfangreiche Katalog ein ganzes Kapitel dem Umgang mit den Aktmodellen. Sie waren ja nicht nur willige Musen, die den Künstlern Modell standen, saßen oder lagen. Für die Mädchen war das schlicht und einfach Arbeit, die Quelle eines Zubrots oder auch eine Alternative zur Schufterei in einer die vielen neuen Fabriken.

Und trotzdem: Diese Ausstellung des Werkes von Jean-Jacques Henner bietet ein schönes, fast schon unbeschwertes Kunsterlebnis, an dem man sich auch ruhig unschuldig, also ohne das Schuldgefühl, eine Grenzüberschreitung zu begehen, erfreuen darf. Lassen Sie sich diese Gelegenheiten zur Unbeschwertheit gegenüber dem Menschlich-Allzumenschlichen nicht entgehen – allzu viele davon wird es, sollte das derzeitige gesellschaftspolitische Klima noch eine Weile bestehen bleiben, vermutlich für längere Zeit nicht mehr geben.

Jean-Jacques Henner – „La Chair et l’Idéal“

Ausstellung an zwei Standorten im Elsass:
Gemälde: Musée des Beaux-Arts im Palais Rohan in Straßburg (bis 24. Januar 2022)
Zeichnungen: Musée des Beaux-Arts in Mülhausen (bis 30. Januar 2022)

In Straßburg gilt der übliche Eintrittspreis von 6,50 €, bis 18 Jahre frei.
Jeden ersten Sonntag im Monat sind alle Museen der Stadt Straßburg für alle Besucher kostenlos, so auch diese Ausstellung – und zwar am 7. November, 5. Dezember und 2. Januar.
Infos und Tickets unter diesem LINK!

Der Eintritt ins Kunstmuseum Mülhausen ist frei. Allerdings wird empfohlen, eine Online-Reservierung vorzunehmen.

Die Ausstellung wird mit einem großzügig gestalteten Katalog, der schon fast ein eigenes Werk ist, kenntnisreich begleitet. Erhältlich im Museumsshop oder im Buchhandel.

Außerdem präsentiert das „Musée national Jean-Jacques Henner“ in Paris zeitgleich eine Themenschau mit dem Titel: „Elsass – die verlorene Provinz träumen 1871-1914“
Bis zum 7. Februar 2022 wird diese Sonderausstellung dort zu sehen sein.
Infos unter diesem Link.

HINWEIS:
Corona-Infos: Wie bei allen Kulturveranstaltungen gilt auch beim Besuch von Museen in Frankreich die 3G-Regel, also Impf- oder Genesenen-Nachweis (min. 11 Tage alter Positiv-Test) mitbringen bzw. aktuellen Negativ-PCR-Test (max. 48 Stunden) vorlegen.

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