Embedded. Ausgangssperre, Tag 10. Was ist „hardship“?

10 Tage schon und es wird immer schlimmer. Zwar stumpft man langsam gegen die Flut von Zahlen ab, aber dennoch bekommt man mit, dass es überall schlimmer wird.

Solche "hardship" haben wir dank Europa nie erlebt. Und die EU muss sich nun auf ihre ursprünglichen Werte zurück besinnen. Foto: Anefo, Nationaal Archief / Wikimedia Commons / CC0 1.0

(KL) – Tag 10 und in der Stille einer fast vollständig gelähmten Stadt wird man a) zum Philosophen und b) hellhörig für das kleinste Geräusch. Ab und zu durchbricht eine Sirene diese schwere Stille, ab und an hört man einen Hubschrauber über der Stadt. Keines dieser Geräusche verheißt etwas Gutes, denn die Sirenen stammen von Krankenwagen und die Hubschrauber verlegen Schwerkranke von hier nach dort. Immer mehr Bekannte stehen auf der immer länger werdenden Liste derjenigen, die persönlich von diesem Drecksvirus betroffen sind. Seit Montag habe auch ich diese Symptome und bisher sind sie nicht schlimm. Aber präsent. In ein paar Tagen werde ich mehr wissen.

Europa hat uns lange in der vermeintlichen Sicherheit gewiegt, dass unseren Generationen nicht das widerfahren kann, was die Angelsachsen „hardship“ nennen. Die richtig harte Nummer. Die Generationen vor uns haben das alle erlebt. Krieg, Flucht, Vertreibung – Situationen, in denen ein Menschenleben nicht viel zählt. In den Erzählungen meiner Großmutter war das Thema „Flucht“ täglich präsent. Eine traumatische Erfahrung, sein Leben von einem Moment auf den anderen zurück lassen zu müssen und sein schieres Leben nur mit dem zu retten, was man tragen konnte. Auf zwei Armen getragen ist ein Leben nur noch eine ziemlich bescheidene Angelegenheit. Doch so traumatisch diese „hardship“ auch war, unsere Vorfahren haben sie überstanden. Zumindest diejenigen, die überlebten.

Nehmen wir mal die Zeit zwischen 1870 und 1945. In nur 75 Jahren haben Franzosen und Deutsche drei mörderische Kriege erlebt. Es wurde getötet und gestorben, es wurde gehungert und vertrieben, es blieb kein Stein auf dem anderen. Nach Millionen von Toten beschlossen dann die Menschen 1945, dass es so nicht weitergehen könne und gründeten ein paar Jahre später das vereinte Europa, das mehrfach den Namen und die Mitgliederliste änderte, um heute die Europäische Union (EU) zu sein. Diese garantiert nun seit ebenfalls 75 Jahren Frieden in Europa. Es gibt, außer an den Rändern unseres Kontinents, keine bewaffneten Kriege mehr. Aber sind wir deshalb auch zu einer Einheit zusammen gewachsen?

Die Corona-Krise zwingt uns, etwas genauer hinzuschauen und nachzudenken, wo wir in Europa wirklich stehen. Die so oft beschworene Einheit und Solidarität hört in dem Moment auf, wo jeder für sich, alten Pawlow’schen Reflexen folgend, nur noch eine eigene Haut und sein eigenes Land retten will. Tschechen klauen Schutzmasken, die für das gebeutelte Italien bestimmt sind und auch in anderen Ländern verschwindet jede Menge Ausrüstung, die unseren Lebensrettern heute fehlt. Solidarität und Union sieht anders aus.

So dramatisch die Situation um Covid-19 ist, vielleicht kommt dieser Schock zum richtigen Zeitpunkt. Es wird wenige Dinge geben, die wir nach der Krise nicht hinterfragen müssen und dabei kann es nicht mehr darum gehen, weiterhin mit großem Aufwand dort Pflaster aufzukleben, wo unsere Welt nicht mehr funktioniert. Es wird in vielen Bereichen radikale Veränderungen geben müssen – und es wäre wünschenswert, wenn diese Veränderungen nicht durch die Gewalt von der Straße, sondern in einem gesellschaftlichen Konsens erfolgen könnten.

Dabei ist das Erste, was wir hinterfragen müssen, die grundsätzliche Ausrichtung unseres Gesellschafts- und Wirtschaftssystems. Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen sind unsere europäischen Gesellschaften in erster Linie auf eines ausgerichtet – das Wohlergehen der „Finanzmärkte“. Aber wer sind diese Finanzmärkte und welchen Beitrag zum Allgemeinwohl leisten sie?

Die Finanzmärkte produzieren nichts und sie bieten den Menschen auch keine Dienste, wie beispielsweise ein Wasserversorger. Finanzmärkte sind nichts anderes als Kasinos, in denen die Investment-Fonds zocken. Es wird auf Gewinne und Verluste gewettet und es geht tatsächlich zu wie am Roulett-Tisch. Dabei sind diese „Finanzmärkte“ inzwischen zu 99 % automatisiert. Hochleistungs-Computer auf der ganzen Welt schieben sich Aktienpakete hin und her und werden dabei nur noch von Menschen beobachtet. Da das ganze aber nicht so richtig gut funktioniert, fahren diese „Finanzmärkte“ in schöner Regelmäßigkeit gigantische Verluste ein, die dann von der Allgemeinheit bezahlt werden müssen, denn irgendjemand hat mal festgelegt, dass die „Finanzmärkte“ für unsere Systeme unverzichtbar sind.

Und genau an dieser Stelle werden wir nachdenken müssen. Was bedeutet bitteschön „systemrelevant“? Systemrelevant sollten in erster Linie Menschen sein, und zwar nicht nur die oberen Zehntausend, sondern alle. Systemrelevant, das sieht man gerade sehr deutlich, sind Krankenhäuser. Oder Mobilitäts-Infrastrukturen. Oder die Landwirtschaft. Oder Kommunikations-Infrastrukturen. Oder Versorgungs-Infrastrukturen. Aber doch kein gigantisches Börsen-Kasino, in dem eine Handvoll Super-Reicher entweder riesige Gewinne erzielt und diese in die Tasche steckt oder ebenso riesige Verluste einfährt, die dann von der Allgemeinheit zu tragen sind. Dieses System ist in sich falsch ausgerichtet, hoch korrupt und definitiv ein Teil des Problems, das keinesfalls Teil der künftigen Lösungen sein kann.

Vielleicht ist diese Corona-Krise die letzte Chance, eine mörderische Fehlentwicklung zu stoppen. Eine Chance, unsere Gesellschaften, Europa und die Welt in eine andere Richtung arbeiten zu lassen, in der es um die Interessen der Menschen geht und nicht mehr um die Interessen derjenigen, die diesen Planeten zerstören, um noch ein wenig reicher zu sein.

Nach der Corona-Krise werden die angeschlagenen Systeme alles daran setzen, solche Veränderungen zu vermeiden und sie werden Waffengewalt einsetzen, um den völlig maroden Status Quo beizubehalten. Aber das wird nicht gelingen. Die Wochen und Monate des erzwungenen Nachdenkens sind für die Mächtigen dieser Welt genauso gefährlich wie dieses Virus. Denn in der Abgeschiedenheit der Ausgangssperren merkt gerade auch der Letzte, dass es so nicht weitergehen kann und dass es Verantwortliche für alle diese Fehlentwicklungen gibt.

Ausgangssperre, Tag 10. Wir alle denken nach. Und merken, dass sich dringend ziemlich viel ändern muss. Wer hätte das gedacht – die Emanzipation im stillen Kämmerlein hat begonnen!

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