Embedded. Ausgangssperre, Tag 22. Alle sind Experten.

In einer Zeit, in der die sozialen Netzwerke die wichtigste Verbindung zur Außenwelt darstellen, explodieren die abstrusesten Theorien und Aussagen. Jetzt ist Filtern angesagt.

Wichtig und trotzdem giftig... Foto: Social Media Marketing - https://todaytesting.com/free-social-media-marketing-free-images / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Tag 22. Und kein Ende abzusehen. Es fängt an, deutlich besser zu gehen, was auch Zeit war. Nur der Husten ist morgens noch da. Und der Geschmack und Geruchssinn sind noch weg. Aber die werden alle wiederkommen. Was dann nach 17 Tagen auch nicht zu früh wäre. Aber dafür stellt man fest, dass sich in nur wenigen Tagen ein ganzes Volk in Experten für Fragen der Virologie, des Krankenhaus-Managements und der Gesundheitspolitik entwickelt hat. Offenbar ist so eine Ausgangssperre gut für die Bildung. Oder nicht?

Inzwischen hat jeder eine fundierte Meinung zu allem. Ein wenig wie bei einer Fußball-Weltmeisterschaft, wenn Millionen Franzosen eine wesentlich klarere Meinung zur Startaufstellung für das nächste Spiel haben als Nationalcoach Didier Deschamps. Der hat ja eh keine Ahnung und war nur zweimal Weltmeister, als Spieler und als Trainer (das gilt natürlich auch für Jogi Löw, der ebenfalls deutlich weniger durchblickt als 80 Millionen Fachleute). Zur Frage des Coronavirus hat jeder eine Gewissheit zu a) der Herkunft des SARS-CoV-2, b) zur Verbreitung des Virus, c) zur klinischen Bekämpfung des Virus, d) zum Versagen der Regierung und e) zum Ende der Ausgangssperre und f) zur weltweiten Verschwörung, die hinter dieser Pandemie steckt.

Das Ärgerliche ist, dass 99 % der Kommentare und Statements von Menschen gemacht werden, die nicht die Spur einer Ahnung haben, wovon sie reden, und dass in dieser Kakophonie der Ahnungslosen die Kommentare der echten Experten wie Ärzten oder Wissenschaftlern untergehen. Gehen wir die Punkte mal durch.

a) Die Herkunft des Virus ist absolut ungeklärt. Man weiß es nicht. Es gibt Vermutungen von wenigen Experten und Verschwörungstheorien vieler. Gesichert ist noch nichts. Deswegen wäre es gar nicht falsch, zu dem Thema einfach zu schweigen. b) auch die Verbreitung ist nicht endgültig klar. Man weiß zwar, dass sich das SARS-CoV-2 als Tröpfcheninfektion verbreitet, doch sind viele andere Vermutungen wie die Verbreitung über berührte Gegenstände und ähnliches nicht geklärt. c) die klinische Bekämpfung des Virus ist ein riesiges Streitthema in Frankreich. Selbst Ärzte sind in ihren Debatten oft unterschiedlicher Meinung und die Frage, ob das berühmte Protokoll des Professor Raoult in Marseille funktioniert oder nicht, ist zur Glaubensfrage geworden. Mittlerweile werden sogar Umfragen durchgeführt, doch kann eine wissenschaftliche Frage zur Wirksamkeit einer Therapie und zum optimalen Zeitpunkt der Verabreichung nicht per Mehrheitsentscheid entschieden werden, ebenso wenig wie die Frage, ob Gott existiert oder nicht. Auch diese Diskussion sollte man Fachleuten überlassen und da wir bei Eurojournalist(e) über keinerlei medizinische Fachkenntnisse verfügen, haben Sie bei uns auch noch keinen Artikel zu dem Thema gefunden. Werden Sie auch nicht.

d) Das Versagen der Regierung ist auch nicht in den sozialen Medien zu klären. Dafür ist hinterher ausreichend Gelegenheit. Tatsache ist natürlich, dass die französische Regierung seit Beginn der Krise falsche Einschätzungen, falsche Aussagen und falsche Personalentscheidungen aneinander reiht. Doch was sie dazu bewogen hat, das wird nicht auf Facebook, sondern später von Gerichten zu klären sein. e) dass jetzt das Ende der Ausgangssperre diskutiert wird, obwohl noch nicht einmal der Höhepunkt dieser Krise erreicht ist, das ist sogar gefährlich. Denn viele bis zum Anschlag genervte Franzosen nehmen diese Debatte als einen Hinweis, dass die Krise praktisch schon überstanden ist und dass man daher die Einschränkungen nicht mehr ernst nehmen muss. Bei dem herrlichen Frühlingswetter sind die Menschen zuhauf draußen unterwegs und riskieren, dass eine neue Ansteckungswelle losbricht. Diese Debatte dürfte man sich auch schenken und man muss hoffen, dass jetzt zwei Wochen Regenwetter bei Temperaturen um 4 Grad losbrechen.

f) nervt ganz besonders. Die Theorien einer internationalen Verschwörung sind besonders abenteuerlich, aber eben auch teilweise gefährlich. Man wittert die Freimaurer hinter dem Virus, die Juden (warum eigentlich schon wieder die Juden?!), die Regierung (zur Bewältigung der Rentenkrise) oder auch die Übernahme der Weltherrschaft durch die Bilderberg-Gruppe. Was man zu diesen Theorien in den sozialen Netzwerken lesen kann, dreht einem teilweise den Magen um. Diese Theorien sind die Suche nach Sündenböcken, an denen man sich abarbeiten kann, die gleichzeitig aber Hasswellen nach Ende der Krise versprechen.

Tag 22, ja, es zieht sich. Und damit den Genesungsprozess vieler würde es wohl positiv beeinflussen, würden die Ahnungslosen einfach mal den Schnabel halten und die Experten diskutieren lassen. Denn die hört man praktisch nicht mehr.

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