Enthaltsame Politiker

Momentan stehen überall wichtige und wichtigste Entscheidungen an. Am Samstag enthielten sich 88 (!) französische Senatoren der Stimme bei der Abstimmung über den umstrittenen Impfpass.

Abgeordnete, die zu zentralen Fragen keine Meinung haben, sollten ihre Mandate zurückgeben. Foto: Jacques Paquier / Wikimedia Commons / CC-BY 2.0

(KL) – Das Beispiel des französischen Senats, in dem sich am Samstag bei der Abstimmung über die umstrittene Umstellung des ohnehin schon ziemlich umstrittenen „Sanitärpasses“ in einen Impfpass, 88 Senatoren der Stimme enthielten, wirft Fragen auf. Das gleiche Phänomen beobachtet man in vielen Ländern und in einer repräsentativen Demokratie ist es hochgradig enttäuschend, wenn man feststellt, dass man für Abgeordnete gestimmt hat, die zu den wichtigsten Fragen unserer Zeit entweder keine Meinung haben oder aber eine Meinung haben, diese aber aus parteitaktischen Gründen nicht ausdrücken. Kein Mensch und keine Demokratie braucht Abgeordnete, die sich der Stimme enthalten.

Im vorliegenden Fall geht es um nicht mehr oder weniger als die Einführung eines digitalen Überwachungs-Instruments für die gesamte französische Bevölkerung. Interessant ist, dass bei der ersten Lesung im Senat, als die Frage gestellt wurde, für wie lange dieser Impfpass eingeführt werden solle, Gesundheitsminister Olivier Véran (zu diesem Zeitpunkt bereits mit Covid infiziert…) lediglich kundtat „so lange wie nötig“). Und bei einer Frage, bei der sich die tägliche Zukunft von 60 Millionen Franzosen entscheidet, haben 88 Senatoren keine Meinung?

Monatelange Wahlkämpfe, Wahlgänge unter schwierigen Bedingungen und dann ziehen Politiker und Politikerinnen in die Parlamente ein, die keine Meinung zu den tagesaktuellen Themen haben? Man sollte eine Regel einführen, dass Abgeordnete, gleich in welchem Parlament, nach der dritten Enthaltung oder dem dritten unentschuldigten Fehlen bei einer Abstimmung, ihr Mandat zurückgeben müssen, da sie ja offensichtlich nicht über die erforderliche Reife verfügen, ein Land mit zu leiten. Das Argument, dass man nicht gegen seine eigene Fraktion stimmen möchte, ist unwirksam, denn Abgeordnete sind nicht etwa ihrer Partei verpflichtet, sondern den Bürgerinnen und Bürgern, die sie gewählt haben und die sie vertreten sollen. Das ist der ureigenste Zweck einer „repräsentativen Demokratie“.

Abgeordneter oder Abgeordnete zu sein, das bedeutet nicht etwa, sich darauf zu beschränken, die Annehmlichkeiten des Jobs zu genießen, wie es beispielsweise ein Boris Johnson in Großbritannien tut, sondern die Menschen würdig und verantwortlich zu vertreten, die einen gewählt haben. Doch wenn in Frankreich bei einer so wichtigen Frage wie der des Impfpasses 88 Senatoren keine Meinung haben, dann darf sich niemand mehr wundern, dass inzwischen nur noch ein Drittel der Franzosen an die Wahlurnen geht, während sich zwei Drittel der Bevölkerung vollkommen von der Politik abgewandt haben und an Wahlsonntagen lieber spazieren oder angeln gehen, da „die da oben ohnehin tun, was sie wollen“. Wenn sich in einer repräsentativen Demokratie die Menschen nicht mehr repräsentiert fühlen, dann ist das ein Zeichen, dass die Demokratie in höchster Gefahr schwebt.

Und es darf sich auch niemand wundern, dass in dieses Meinungs-Vakuum nun die Rechtsextremen einbrechen, die zwar zumeist nur unglaublichen Blödsinn vertreten, aber dafür wenigstens eine Meinung haben. Eine schlimme Meinung, aber eine Meinung. Und damit unterscheiden sie sich von den anderen, die offenbar nur ihre hohen Diäten und Sitzuungsgelder kassieren, aber mit der Politik offenbar nicht viel am Hut haben.

Man kann es drehen, wie man will, aber die V. Französische Republik hat ihr Endstadium erreicht. Im April fällt das Land entweder in die Hände eines Präsidenten, der davon träumt, seinen „digitalen Totalitarismus“ in einer weiteren Amtszeit zu perfektionieren oder aber in die Fänge der Rechtsextremen, deren politische Vorstellungen die Welt bereits mehrfach ins Elend gestürzt haben. Das Konzept „Politik“ muss dringend reformiert werden. Bevor sich die Demokratie selbst abschafft.

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