Es wird eng für Recep Tayyip Erdogan

Die türkische Diaspora hat mit den Präsidentschaftswahlen früher begonnen als die Wähler in der Türkei. Seit gestern können im Ausland lebende Türken ihre Stimme abgeben, in der Türkei wird am 14. Mai gewählt.

Kemal Kılıçdaroğlu, gemeinsamer Kandidat von sechs Oppositionsparteien, will die Ära Erdogan beenden. Foto: Cumhuriyet Halk Partisi / Wikimedia Commons / CC-BY 3.0

(KL) – Von den rund 85 Millionen türkischen Staatsbürgern leben 6,5 Millionen im Ausland, davon 5,5 Millionen in Westeuropa, davon 1,5 Millionen in Deutschland. Die im Ausland lebenden Türken können seit gestern ihre Stimme für den ersten Wahlgang der am 14. Mai in der Türkei stattfindenden Präsidentschaftswahl abgeben und diese Wahlen dürften extrem knapp ausfallen. Denn gegen den Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan tritt mit Kemal Kılıçdaroğlu ein gemeinsamer Kandidat von sechs Oppositionsparteien an, der in den Umfragen gleichauf mit Erdogan liegt. Angesichts des engen Rennens um das höchste Staatsamt könnte es gut sein, dass die Entscheidung vom Votum der im Ausland lebenden Türken abhängt und von denen wählt eine groβe Mehrheit traditionell AKP, die Partei von Erdogan.

Die Entscheidung über eine weitere Amtszeit Erdogans oder einen politischen Wechsel wird noch nicht am 14. Mai fallen, denn es scheint klar, dass keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang mehr als 50 % der Stimmen auf sich vereinen kann. Die Chancen für Kemal Kılıçdaroğlu stehen allerdings gut, denn Erdogan hat mit aktuellen Problemen zu kämpfen. Zum einen steht Erdogan nach dem fürchterlichen Erdbeben im Grenzgebiet zu Syrien in der Kritik, da wohl viele der Schäden hätten vermieden werden können, wären bestehende Bauvorschriften eingehalten worden, was vielerorts nicht geschehen war und kontrolliert wurde. Dazu war Erdogans Zusammenbruch bei einer TV-Livesendung nicht gerade beruhigend für die Wählerschaft, auch wenn sich Erdogans Entourage sofort bemühte, den Vorfall zu minimieren. Doch Erdogan wirkt angeschlagen, sogar verunsichert, denn durch die Allianz der sechs Oppositionsparteien sieht er seinen Stern deutlich sinken.

Die Hoffnung vieler Türken geht in Richtung einer demokratischen Erneuerung und des Abschieds von einem Präsidialsystem, das Erdogan zu einer Machtstellung ausgebaut hat, die schon autokratisch zu nennen ist. Kein Wunder, dass der türkischstämmige Landwirtschaftsminister und Grünenpolitiker Cem Özdemir die Ansicht vertritt, dass ein Erfolg von Kılıçdaroğlu den Weg zurück in die Demokratie öffnen würde. Es besteht auch die Hoffnung, dass die seit ewigen Zeiten andauernde Verfolgung der kurdischen Minderheit ein Ende finden und die Türkei insgesamt befriedet werden könnte.

Erstaunlich ist dennoch, dass die Türken in der Diaspora mehrheitlich für die AKP und Erdogan stimmen (65 % bei den letzten Wahlen), obwohl Erdogan in der Türkei ein Regime eingerichtet hat, unter dem die meisten im Ausland lebenden Türken nicht leben wollten. Allerdings ist ein gesteigerter Nationalismus ein gemeinsames Kennzeichen aller Diasporas, die fern der Heimat ein deutlich gesteigertes Nationalgefühl entwickeln, das von Nationalisten wie Erdogan gezielt angesprochen wird.

Und was würde die Türkei unter einem Präsidenten Kemal Kılıçdaroğlu erwarten? Auf jeden Fall einen Quantensprung in Sachen Demokratie, denn als gemeinsamer Kandidat der sechs Oppositionsparteien, die zum Teil sehr unterschiedliche Positionen vertreten und im Grunde nur davon geeint werden, dass sie zusammen das „System Erdogan“ stürzen wollen. Unter einem Präsidenten Kemal Kılıçdaroğlu müsste eine Politik des Kompromisses geführt werden, was sicher nicht einfach wird, dafür aber den Vorteil bietet, extremistische Positionen praktisch unmöglich zu machen.

Kemal Kılıçdaroğlu hat im Wahlkampf auch Teile der Erdogan-Wählerschaft angesprochen, insbesondere durch die Ankündigung, Millionen Flüchtlinge wieder in ihre Heimatländer zurückzuschicken, vor allem nach Syrien, wobei diese Ankündigung auch schon politischen Sprengstoff beinhaltet, da dieses Vorhaben eine Annäherung mit dem syrischen Diktator Al-Assad voraussetzt. Angesichts der massiven Wirtschaftsprobleme der Türkei bedient die Ankündigung der Abschiebung von Millionen Flüchtlingen nationalistische Gefühle in der Bevölkerung, doch sind populistische Alleingänge in einer Konfiguration, in der die politische Stabilität vom Kompromiss zwischen sechs Parteien abhängt, so gut wie ausgeschlossen.

Doch sollte man Erdogan nie unterschätzen. Bei den letzten Wahlen zauberte er kurz vor dem Wahltermin Angela Merkel aus dem Hut, die zum für Erdogan passenden Zeitpunkt in Ankara mit einem Scheck über 6 Milliarden Euro auftauchte, was der Preis dafür war, dass die Türkei die Grenzen zur EU für Flüchtlinge geschlossen hielt. Dieser warme Geldregen aus Brüssel brachte Erdogan auf der Ziellinie die erforderlichen Stimmen, um sich am Ende knapp mit 53 % durchzusetzen. Es wäre überraschend, würde Erdogan so kurz vor der Wahl in der Türkei nicht noch mit einem solchen Stimmenfang aufwarten.

So oder so, die Wahl hat nun in der Diaspora begonnen und die 6,5 Millionen Auslands-Türken werden eine gewichtige Rolle für das Endergebnis spielen. Und jetzt kann man der Türkei und den Türken nur ein glückliches Händchen wünschen, denn in den aktuellen Weltkrisen wird der Türkei weiterhin eine sehr wichtige Rolle zukommen. Spätestens am 28. Mai, dem Tag der Stichwahl, wird man mehr wissen.

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