Europa spricht

– und niemand hört zu.

Ursula von der Leyen Foto: EP/Wikimédia Commons/CC-BY-SA/2.0Gen

Die 90-minütige Rede von Ursula von der Leyen vor der Zweigstelle des Europäischen Parlaments in Brüssel wurde per Facebook-Livestream in ganz Europa ausgestrahlt. Im Schnitt verfolgten rund 2000 Personen diese Rede.

(KL) – Die europäischen Institutionen haben das gleiche Problem wie viele nationale Regierungen – sie haben den Bogen überspannt und das Vertrauen der Menschen verloren. Und damit auch das Interesse an den schönen Reden und Absichtserklärungen der europäischen Politiker*innen. Die Facebook-Übertragung der Rede von Ursula von der Leyen, die in Brüssel die Chance verpasste, eine große Europäerin zu werden (es hätte gereicht, darauf zu bestehen, ihre Ansprache zur Lage der EU in Straßburg zu halten, statt sich willenlos dem Diktat der Brüsseler Lobbys zu unterwerfen), wurde im Schnitt von 2000 Personen verfolgt. Das sind ungefähr 0,00005 % der europäischen Bevölkerung. Merkt man eigentlich in Brüssel, dass man dort inzwischen überwiegend Selbstgespräche führt?

Dass sich die Europäische Union zu einem Erfüllungsgehilfen der „Märkte“ entwickelt hat, das haben wir mitbekommen. Dass die EU in Dossiers wie der Flüchtlingsfrage völlig versagt, Menschen im Mittelmeer sterben lässt, dafür aber Diktatoren und Tyrannen in Ost- und Nordafrika mit Geld und Waffen ausstattet, damit diese Europa die Flüchtlinge vom Hals halten, das haben wir auch gemerkt. Dass die EU nicht in der Lage ist, rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien in den Visegrad-Staaten durchzusetzen, auch das wissen wird. Dass die EU keinerlei Motivation zeigt, Julian Assange zu retten, danke, auch das haben wir gemerkt.

Und dass die EU regelmäßig vor Leuten wie Erdogan in die Knie geht, wie sollte man das nicht mitbekommen? Auch ein soziales Europa sucht man vergeblich und wie es um die EU wirklich aussieht, erkennt man an der Kakophonie in der Corona-Krise, in der jeder tut, was er will. Ohne Abstimmung, ohne Sinn und Verstand. Dass Europa gerade auseinanderbricht, nachdem die Briten durchgedreht sind und die EU nicht die leiseste Anstrengung unternommen hat, den Brexit zu verhindern, wie sollte man das nicht sehen? Seien wir ehrlich, in den letzten Jahren hat die EU in sehr vielen wichtigen Dossiers versagt.

Die EU muss Kritik aushalten, vor allem, wenn sie von überzeugten Europäern kommt. Es wäre auch an der Zeit, dass sich die EU einmal in Selbstkritik übt. Ist es wirklich so verwunderlich, dass sich die Menschen nach und nach von einer Struktur abwenden, die sich hartnäckig weigert, das umzusetzen, womit sie hausieren geht, nämlich dem europäischen Humanismus?

Europa und die EU können nicht damit zufrieden sein, wenn nur noch 2000 Menschen zuhören, wenn Ursula von der Leyen spricht. Wir brauchen dringend grundlegende Reformen, die Abkehr vom lähmenden Prinzip der Einstimmigkeit, eine Stärkung des Europäischen Parlaments in Straßburg, deutlich mehr Transparenz auf Ebene der Kommission, deren 33.000 Beamte hinter verschlossenen Türen deutlich zu viel Macht haben. Sollte die EU sich allerdings weiter gegen Reformen sperren, dann werden diese irgendwann überflüssig. Mit dem Brexit hat der Zerfall der EU begonnen und andere Länder könnten folgen. Sollte dies der Fall sein, wird es für Reformen zu spät sein. Worauf wartet man eigentlich in Brüssel?

2 Kommentare zu Europa spricht

  1. Lieber Kai, du unterstellst die Politiker wären an einer anderen, einer tatsächlichen Union interessiert. Das ist aber wohl nicht der Fall. Unsere Politiker haben was sie wollen: eine Art Zweckverband der einem nicht in die nationale Politik hineinreden kann. Deshalb haben wir auch nur offene Grenzen, die geschlossen werden können wie eine offene Tür. Bin gespannt wann von dieser Möglichkeit wieder Gebrauch gemacht wird.

    • Lieber Peter, deine Analyse ist ebenso frustrierend wie zutreffend. Die EU steuert immer mehr auf eine Frage zu, die weh tun wird – die Sinnfrage.

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