Europa versteht die Welt nicht mehr
In Europa glaubt man immer noch, dass die Welt nach europäischen Vorstellungen zu funktionieren hätte. Doch das tut sie schon lange nicht mehr.
(KL) – In sechs Wochen sind die Europäerinnen und Europäer aufgerufen, ein neues Europäisches Parlament zu wählen, was weitreichende Konsequenzen auch für die übermächtige Europäische Kommission haben wird, denn immerhin muss das Parlament sämtliche Neubesetzungen der Kommissarsposten und auch diejenige des Präsidenten der Kommission absegnen. Doch langsam wird diese Wahl zu einer Mischung aus nationalem Abstrafen der aktuellen Regierungen und einer regionalen Wahl, denn auf dem internationalen Parkett ist Europa in den Jahren unter der Präsidentin Ursula von der Leyen in der politischen Bedeutungslosigkeit versunken. Dass man dann ausgerechnet erneut diejenigen zu Kandidaten macht, die dies zu verantworten haben, zeigt nur, dass die Verantwortlichen überhaupt nicht mehr verstehen, was eigentlich gerade auf der Welt passiert.
So meldete gestern der Iran Exportrekorde (auch der Handel mit Deutschland steigt), trotz aller Sanktionen und angeblichen Einschränkungen. Dass dies am Dreieck China-Russland-Iran liegt, weigert man sich in Brüssel beharrlich zu verstehen. Dass selbst das BRICS-Konzept noch nicht im politischen Kalkül angekommen ist, zeigt der Besuch von Olaf Scholz in China, wo er einen ähnlich peinlichen Auftritt hinlegte wie vor ihm Annalena Baerbock. Immerhin, Chinas Präsident Xi nahm sich die Zeit, um Olaf Scholz wie einen Schüler zurechtzuweisen und diesem klarzumachen, dass China groß genug ist, um sich um chinesische Interessen zu kümmern. Und dass Xi gleichzeitig eine starke Solidaritätsadresse an Russland aussprach, versteht man in Europa ebenfalls nicht. Denn das chinesische Interesse ist es nicht etwa, für realitätsfremde Europäer die Kastanien aus dem Feuer zu holen, sondern im chinesischen und BRICS-Interesse zu handeln. Aber um das zu verstehen, müsste man in Brüssel als erstes begreifen, was die Existenz des BRICS-Staatenbundes überhaupt bedeutet. Und da scheint es mächtig in Brüssel zu hapern.
Abgesehen von zivilgesellschaftlichen Initiativen, die momentan mit viel Motivation zahlreiche Europa-Veranstaltungen organisieren und versuchen, die Menschen zur Teilnahme an der Europawahl zu mobilisieren, machen die politischen Parteien weiterhin alle Fehler, die man machen kann. Dabei begeht die Europäische Volkspartei (EVP), die Fraktion der konservativen Parteien im Europäischen Parlament, den größten Fehler, indem sie die Hauptverantwortliche für den europäischen Absturz, Ursula von der Leyen, zur Spitzenkandidatin gemacht hat und ihr eine zweite Amtszeit als Präsidentin der Europäischen Kommission andient. Die Nachricht der Konservativen ist klar – wir machen so weiter wie bisher, mit institutioneller Korruption auf vielen Ebenen, einer Politik der verschlossenen Türen in Brüssel, wo Milliarden verschleudert werden und russische Spione ihr Unwesen treiben, doch dieses „Weiter so!“ ist eine politische Bankrotterklärung. Was die EVP geritten haben mag, ausgerechnet die Hauptverantwortliche für das abstürzende Europa für eine zweite Amtszeit zu nominieren, ist unklar. Dabei ist diese Nominierung wie ein Aufruf, die Parteien der EVP nicht zu wählen.
Wo immer europäische Politiker und Politikerinnen gerade durch die Welt reisen, überall teilt man ihnen mehr oder weniger offen mit, dass es den wirklichen Akteuren der Weltpolitik egal ist, was man in Brüssel, Berlin, Paris oder Rom denkt oder wünscht. Europa ist weltpolitisch in die 2. Liga abgestiegen und hat große Probleme, sich darauf einzustellen. Aber ob ausgerechnet diejenigen, die dieses politische Desaster zu verantworten haben, auch diejenigen sind, die Europa aus dieser politischen Misere wieder herausführen können, ist mehr als fraglich.
Natürlich klingt heute in den Wahlveranstaltungen alles großartig. Doch das tut es eben auch nur in Wahlkampfzeiten, während es im politischen Alltag ganz anders aussieht. Europa ist nicht mehr der Steuermann im Achter der Weltpolitik, sondern nur noch der Ersatzmann. Und nun sollen wir erneut für diejenigen stimmen, die den Karren in den Dreck gefahren haben?
Da die eigentliche Europapolitik im Geheimen in Brüssel ausgedealt wird, wissen viele Menschen überhaupt nicht, für wen oder was sie da eigentlich stimmen sollen. Folglich wird die Europawahl in 27 nationale Wahlen umgemünzt, bei denen diejenigen, die überhaupt noch wählen gehen, ihren jeweiligen Regierungen nationale Denkzettel (oder in ganz wenigen Fällen auch ihre Zustimmung) ausdrücken werden.
Schuld an dieser Entwicklung sind nicht etwa die „uninteressierten Europäer und Europäerinnen“, sondern diejenigen, die die Europäische Union in einen Selbstbedienungsladen für Politiker verwandelt haben, die in ihren jeweiligen Ländern zu nichts mehr zu gebrauchen waren. Und für die wir jetzt wieder stimmen sollen, nach dem seit über 20 Jahren in Frankreich geltenden Konzept „wählt mich, sonst bekommt ihr die Rechtsextremen“.
Dass die EVP davon ausgeht, wieder eine „bequeme Mehrheit“ zu erhalten, ist nicht viel mehr als ein Wunschgedanke. Mit der schlechtesten aller Spitzenkandidatinnen könnte es reichen, dass sich die rechtsextremen Fraktionen im Europäischen Parlament zusammenraufen und einen gemeinsamen Block bilden. Dann könnte es das mit der „bequemen Mehrheit“ schon gewesen sein. Doch auf diese Weise mit der Zukunft von fast 500 Millionen Europäerinnen und Europäern zu zocken, ist schon reichlich vermessen. Vor allem, wenn man in der 2. Liga spielt und denkt, man sei immer noch in der Champions League…
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