Europäische Werte?

Seit über vier Wochen lesen wir täglich, dass in der Ukraine „europäische Werte“ bis auf den letzten Blutstropfen verteidigt werden. Aber was sind das für Werte?

Das Ziel muss der Frieden sein und nicht der III. Weltkrieg. Foto: Ralf Lotys (Sicherlich) / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Angesichts des Ukraine-Kriegs und des ständig wiederholten „wir verteidigen hier europäische Werte“, sollte man doch einmal genauer hinschauen, um was für Werte es überhaupt geht. Denn in der Ukraine tobt nicht etwa der Krieg „Ost gegen West“, sondern der Krieg „Russland gegen Ukraine“ und das ist nicht dasselbe. Auch, wenn man uns von allen Seiten nahelegt, dass es der Kampf „Ost – West“ oder auch „Gut – Böse“ sei. Es wäre interessant, würde man den „Sloganismus“ einen Moment zur Seite legen und sich dafür mit der Frage beschäftigen, was diese „europäischen Werte“ überhaupt sind und wieso diese ausgerechnet von und in der Ukraine verteidigt werden sollen, sind doch bereits die EU-Mitgliedsstaaten zu „normalen“ Zeiten nicht in der Lage, dies zu tun.

Es geht also darum, Werte wie die Demokratie zu verteidigen. Diese, unsere Demokratie, ureigenster Wert Europas. Schade, dass in einzelnen, auch großen Ländern, bis zu zwei Drittel der Wahlberechtigten gar nicht mehr wählen gehen, weil sie zumeist jedes Vertrauen in die Politik und die Demokratie verloren haben. Sterben wirklich Menschen in der Ukraine für etwas, was uns mehrheitlich schon gar nicht mehr interessiert?

In der europäischen „Werteskala“ ganz weit oben: die Meinungsfreiheit. Dazu gehören natürlich auch Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit. Da stehen die Europäer, bis auf die Skandinavier, die diese Werte wirklich im täglichen Leben leben, ziemlich mau da. Die Bilder von Demonstrationen in europäischen Hauptstädten ähneln viel zu oft dejenigen aus Moskau. Viele europäische Länder liegen im Ranking der Pressefreiheit, das von Transparency International aufgestellt wird, in einem kläglichen Mittelfeld. In Frankreich wird das Presserecht geändert und wer Polizisten in Aktion dokumentiert, kann dafür mit Gefängnis bestraft werden. Sind das die europäischen Werte, für die Menschen sterben müssen?

Und was ist mit Julian Assange, der in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis Folter dafür erduldet, dass er die Wahrheit über Kriegsverbrechen unseres großen Verbündeten USA veröffentlicht hat? Ja, genau der, bei dem die gesamte europäische Politik peinlich betreten zur Seite schaut, während sie gleichzeitig Gesetze zum „Schutz von Whistleblowern“ erlässt und sich selbst dafür feiert. Welchen europäischen Werten entspricht es, diesen Mann einem Land zu opfern, das bereits Entführungs- und Mordpläne gegen ihn schmiedete und ihm 175 Jahre Gefängnis androht?

Sind es die Werte, die uns viel Geld für die Grenzschutztruppe Frontex hat ausgeben lassen, damit diese dafür sorgt, dass die in Afrika gestarteten und mit Flüchtlingen überladenen Nussschalen nicht in europäische Gewässer vordringen können? Und dann eben auf hoher See sinken und die lange Liste der Opfer im Mittelmeer verlängern?

Oder sind es die Werte, nach denen wir unseren Planeten für künftige Generationen noch lebensfähig erhalten? Also das kollektive Nichtstun angesichts einer Klimakatastrophe, die längst begonnen hat und von der man nicht mehr unbedingt annehmen darf, dass sie uns nicht mehr in unserer eigenen Lebensspanne erwischt?

Es könnte natürlich auch sein, dass in der Ukraine unsere sozialen Werte verteidigt werden. Also die Unterstützung eines spekulativen Finanzsektors mit einer Billion Euro, während ungefähr 15 % der Europäerinnen und Europäer unterhalb der Armutsgrenze leben.

Würden diese „europäischen Werte“ respektiert und in der Praxis eingehalten, könnte man darüber nachdenken, ob es sich lohnt, dafür auf Leben und Tod zu kämpfen. Aber sie werden es nicht. Diese „Werte“ klingen gut und werden trotzdem nicht gelebt. Dafür sterben? Oder geht es am Ende doch nur um den ewig überzogenen Nationalismus, der noch nie ausgemerzt werden konnte?

Europa befindet sich in einer tiefen Identitätskrise. Die humanistischen Werte, die wir uns immer auf die Fahne schreiben, sind „politische Kommunikation“ und man muss festhalten, dass Europa seinen eigenen Ansprüchen nicht genügt. Die EU wird nicht umhin kommen, sich komplett neu zu definieren, eine ganz andere Politik zu führen, die über die Rolle des Erfüllungsgehilfen der „Märkte“ hinaus geht. Jahrzehnte lang hat die EU eine lähmende Selbstgefälligkeit an den Tag gelegt und wenn man die Realitäten betrachtet, dann ist die Aussage „in der Ukraine werden die europäischen Werte verteidigt“ einfach falsch. In der Ukraine tobt ein Krieg zwischen Nationalisten, die auf beiden Seiten bereit sind, den III. Weltkrieg auszulösen, um ihre nationalistischen Vorstellungen durchzusetzen. Bevor die Eskalation diesen Punkt erreicht, wäre es vielleicht sinnvoll, das Wort „Frieden“ etwas häufiger zu benutzen.

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