Europäisches Menschenrechts-Schutzsystem in Gefahr?
EMRK-Reformprozess: Europa kann sich seinen Verpflichtungen nicht entziehen.
(Von Georg Kleine) – Sollte Gegenöffentlichkeit vermieden werden, so war der Zeitpunkt geschickt gewählt. Die Ankündigung der dänischen Regierung, während des dänischen Vorsitzes im Europarat die Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu beschränken und die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention, kurz: EMRK) in diesem Sinne „zukunftsgerecht“ anzupassen, verhallte Mitte November nahezu in der allgemein aufgeheizten antieuropäischen Stimmung. Es entsprach dem politischen Zeitgeist, sich “störenden” Regeln und Institutionen entziehen zu wollen. Die Einklagbarkeit menschenrechtlicher Verpflichtungen auf den Prüfstand zu stellen, passt einmal mehr gut ins Bild und wirkt vor dem Hintergrund des stark nach rechts gerückten politischen Diskurses leider nahezu zeitgemäß. Die Ansage fiel außerdem in eine Zeit, in der in ganz Europa insbesondere Flüchtlingsrechte immer stärker eingeschränkt wurden. Dennoch zeigt sich in der Infragestellung der Kompetenzen des EGMR eine neue Qualität in der fortgeschrittenen Bedrohung demokratischer Werte. Die Überarbeitung des europäischen Menschenrechtsschutzsystems läuft bereits seit Jahren. Zwar gibt es auch radikalere Stimmen, aber das was Dänemark und andere Vertragsstaaten als Kompromiss für den EGMR im Reformprozess der EMRK fordern, zählt aus Sicht eines effektiven Menschenrechtsschutzes zu den Verschlechterungen des Status quo.
Die EMRK aus dem Jahr 1950 und die Einrichtung des EGMR gelten als zwei der größten (europäischen) Errungenschaften auf dem Gebiet der Menschenrechte mit weltweiter Vorbildfunktion. Der EGMR stellt seit 1998 mit seinem Individualbeschwerdeverfahren dabei das Herzstück des Menschenrechtsschutzes in Europa dar. Die Rechte aus der EMRK stehen damit nicht nur auf dem Papier, sie sind auch gegen Staaten (nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges) einklagbar. Menschenrechte gelten von ihrer Natur her für jeden Menschen, man kann sie nicht verwirken. Eine Menschenrechtskonvention, die Menschenrechte an bestimmte persönliche Eigenschaften knüpft oder einen bestimmten Personenkreis ausklammert, verdient diesen Namen nicht. Der EGMR hat weite Kontrollkompetenzen, damit die Vertragsstaaten in jedem Falle ihren Verpflichtungen aus der EMRK nachkommen. Menschenrechtsverletzungen in Europa, etwa illegale Abschiebungen, aber auch rechtswidrige Maßnahmen in der Strafvollstreckung, können von Straßburg aus gestoppt werden. Die EMRK-Vertragsstaaten sind an die Entscheidungen des EGMR gebunden.
Dänemark und andere Vertragsstaaten stört am europäischen Menschenrechtssystem – insbesondere am EGMR –, dass sie letztlich ihre eigene Innen- und Justizpolitik hieran (bzw. an dessen Rechtsprechung) auszurichten haben. Die EMRK eröffnet Betroffenen durch den Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) unter Berufung auf die EMRK einen letzten Rechtsschutz vor rechtswidrigen repressiven staatlichen Maßnahmen – etwa vor drohenden, menschenrechtsverletzenden Abschiebungen.
In seiner Rede vor dem Europarat vom 24. Januar 2018 bekräftigte der dänische Premierminister Rasmussen erneut das Vorhaben Dänemarks und anderer Vertragsstaaten, den Vorsitz Dänemarks im Europarat zu nutzen, um den umstrittenen Reformprozess voranzutreiben. Gemeint scheint damit die Anpassung der EMRK an nationale innen- und justizpolitische „Notwendigkeiten“. Rasmussen bemühte dabei unter anderem wieder das überstrapazierte Schreckgespenst des “kriminellen Ausländers”, der seiner Ansicht nach die Rechte der EMRK als Schlupfloch ausnutze und über den dort verankerten “Familienschutz” im EMRK-Vertragsstaat Dänemark (konkret in dänischen Gefängnissen) bleiben und wegen Urteilen des EGMR nicht abgeschoben werden könne. Dies rechtfertige die Überarbeitung der Konvention. Eine Überarbeitung, die alle Bürger der EMRK-Vertragsstaaten betrifft.
„Reformer“ wie Rasmussen sehen in der bisherigen Reichweite der Rechtsprechung des EGMR sogar eine Gefahr für die nationalen Demokratien. Die Urteile seien teilweise nicht vermittelbar, sie stünden nicht im Einklang mit dem allgemeinen Verständnis von Menschenrechten. Soweit ist der politische Dialog also mittlerweile nach rechts gerückt, dass eine unabhängige, effektive Justiz auf Grundlage einer gemeinschaftlich verabschiedeten Menschenrechtskonvention als störend empfunden wird. Es ist jedoch (und zwar zwingend!) nicht Aufgabe einer neutralen Rechtsprechung, es der politischen Couleur der Mehrheitsgesellschaft recht zu machen. Unabhängige, auch supranationale Gerichte sind Ausfluss der Gewaltenteilung und damit ein Grundpfeiler unserer Demokratie.
Rasmussens Rede steht im Kontext eines seit Jahren laufenden Reformprozesses zur EMRK und zum EGMR. Dieser Prozess betrifft u.a. die Neujustierung der Maßstäbe für die Judikatur des EGMR (insbesondere durch das Protokoll Nr. 15 über die Änderung der EMRK). Die Rechtsprechung des EGMR und deren Reichweite müsse laut Rasmussen stärker “diskutiert” werden: das europäische Menschenrechtssystem solle sich Staaten, die ohnehin schon Menschenrechte achten, nicht zu sehr “einmischen”. Ob durch diese Ansage nur die Subsidiarität des Gerichtshofes gestärkt oder auch die eigentliche Kontrolldichte des EGMR zu Recht gestutzt werden soll, bleibt bei einer solchen Formulierung dezidiert offen. Subsidiarität bedeutet, dass die Verantwortung für die Durchsetzung der EMRK vor allem bei den Vertragsstaaten liegen soll. Der EGMR bleibt aber letztinstanzlicher Hüter der EMRK. Je größer jedoch der Ermessensspielraum der Vertragsstaaten bei der Umsetzung und Einhaltung der EMRK ist, desto geringer ist die Kontrolldichte des EGMR, wenn eine bestimmte nationale Auslegung der EMRK Gegenstand eines Gerichtsverfahrens ist. Ermessensspielraum geht zwar einher mit einzuhaltenden Maßstäben zur Ermessensausübung, aber eben auch mit unantastbaren Interpretationsfreiräumen. In diese darf der EGMR dann nicht eingreifen. Nun ist es aber gerade die Aufgabe eines Menschenrechtsschutzsystems einschließlich eines effektiv agierenden Gerichtshofs, die Menschenrechtspolitik der Vertragsstaaten genau zu überwachen. Die Ansicht zu vertreten, das nationale Rechtsschutzsystem arbeite so gut, dass man Korrekturen aus Straßburg nicht nötig habe, wirkt vor dem Hintergrund der Funktionsweise eines Menschenrechtsschutzsystems doch sehr vermessen. Den Beurteilungsspielraum des EGMR im Rahmen der EMRK-Reform zu verringern, bedeutet letztlich, dass dieser nationalstaatliche Menschenrechtsverletzungen nicht länger in jedem Fall mit rechtsstaatlichen Mitteln effektiv unterbinden bzw. ausbessern kann.
Bedauerlicherweise griffen nur wenige Medien die Meldung aus dem als liberal geltenden Land auf. Dies war von der rechtsliberalen dänischen Regierungskoalition möglicherweise so einkalkuliert worden. Dass eine angekündigte Beschränkung des europäischen Menschenrechtsschutzes im dumpfen nationalen Getöse unterging, macht sie – auch angesichts der verwendeten Beispiele – aber umso gefährlicher.
Zwar sind auch noch schärfere Beschränkungen denkbar (und waren auch Gegenstand der Reformdebatte), aber der von Dänemark und mehreren Vertragsstaaten präferierte Ansatz zur Neujustierung des europäischen Menschenrechtssystems macht dieses angreifbar für nationale Alleingänge bei der Auslegung der EMRK. Anstatt sich wie die britische Brexit-Premierministerin May europäischer Rechtsstrukturen – etwa durch einen Austritt aus der EMRK – schlicht entledigen zu wollen, soll die Funktionsweise völkerrechtlicher Verpflichtungen durch Kontrollentzug mit Geltung für alle Vertragsstaaten abgeschwächt werden. Unausgesprochen liegt es außerdem nahe, dass eine Reduzierung des Beurteilungsspielraums des EGMR auch den europäischen Flüchtlingsschutz betreffen wird. Denn asylrechtliche Klagen sind derzeit Hauptbetätigungsfeld nationaler Gerichte.
In welcher Weise Dänemarks Ankündigungen den EMRK-Reformprozess beeinflussen werden, ist noch offen. Für April 2018 wurde eine Ministerkonferenz in Kopenhagen anberaumt, um den bereits seit einigen Jahren laufenden Reformprozess (u.a. zum Subsidiaritätsprinzip) voranzutreiben. Zumindest die Reden der dänischen Regierungsvertreter vor dem Europarat zeigen, auf welchem Weg wir uns befinden. Sie sind öffentlich auf der Internetseite des Europarats einsehbar und sollten aufmerksam und kritisch studiert werden. Die liberale europäische Öffentlichkeit sollte nicht tatenlos zusehen, wenn mit großer Wirkung an kleinen Rädchen gedreht wird.
Georg Kleine arbeitet als Jurist am Bodensee und engagiert sich ehrenamtlich für Geflüchtete.
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