Europäisches Parlament – Ist jetzt Schluss mit lustig?

Vor dem Spiel ist nach dem Spiel – Rückschau auf den Beginn der Sitzungsperiode 2014/2019 im Straßburger EU-Parlament mit einer Empfehlung zum Dranbleiben: das kann noch lustig werden!

Nigel Farage von der britischen UKIP würde das Parlament in Straßburg lieber heute als morgen schließen. Foto: © Kai Littmann

(Von Michael Magercord) – Anfang Juli war er wieder da: der Wanderzirkus aus Brüssel. Für drei Tage gastierte er im 435 Kilometer enfernten Straßburg. Eigentlich kommt er regelmäßig einmal im Monat zu seiner festen Spielstätte im Elsaß. Im Mai und Juni fielen die üblichen Veranstaltungen aus, doch am 1. Juli hatte er eine weitere fünfjährige Spielzeit in neuer Besetzung aufgenommen.

Mit dem „Wanderzirkus“ ist das Europäische Parlament und der allmonatliche Umzug seiner 751 Abgeordneten des Europäischen Parlaments, deren Mitarbeiter und ihrer Akten vom Arbeitsort Brüssel zum französischen Tagungsort Straßburg und zurück gemeint. Und als wollte die neugewählte Volksvertretung gleich in der ersten Sitzung der ach so lustigen Methapher gerecht werden, haben etliche Erstzugänge das übliche Repertoire aus Trapeznummern und der Drahtseilakten um einige Clowneinlagen erweitert.

„Enjoy it“ schwor etwa der Chef der britischen UKIP Nigel Farage seine 23 Parteikollegen vorm Eintritt in den Glaskoloss ein. Was für ein Genuss, dem Straßburger Symphonie Orchester den Rücken zuzudrehen, während es zum Auftakt der Legislaturperiode Beethovens Neunte intoniert. Marine Le Pen vom französischen Front National zeigte sich beeindruckt: „Ein starkes Symbol“. Allerdings wirkte sie „not amused“, diese Gelegenheit zum tollen Spaß ausgerechnet jenen Briten überlassen zu haben, die keine gemeinsame Parlamentsfraktion mit ihr bilden wollen. Ganz ohne Symbolik haben die fünfundzwanzig Franzosen den symbolträchtigen Morgen aber nicht verstreichen lassen. Zur Europahymne habe man sich, so die Parteichefin, nicht erhoben, denn man teile die Auffassung der Briten: „Es gibt kein europäisches Volk“.

Verpasste Gelegenheiten – Aber europäische Institutionen gibt es, wie dieses Parlament, in das man sich wählen lassen kann, obwohl man es nicht mehr will. Es muss wohl doch ziemlich lustig sein, als Politprofi gegen die politische Klasse zu Felde ziehen und sich dafür von der Institution, die man bekämpft, ziemlich anständig entlohnen zu lassen. Noch besser wird’s, wenn man am Wanderzirkus gar nicht erst teilnimmt. Marine Le Pen und die Ihren werden sich in Brüssel, wo doch nur die wenig lustige Arbeit in den Ausschüssen anstünde, wohl kaum allzu oft blicken lassen. Sie werden ihre Anti-Auftritte auf die große Bühne in Straßburg beschränken, wofür es für jeden Abgeordneten noch einen Aufschlag von 304 Euro pro Sitzungstag aus dem europäischen Steuersäckel gibt.

Die Rolle von Clowns ist es, Widersprüche aufzuzeigen, nicht zu lösen. Das gilt insbesondere für ganz offiziell ins Parlament gewählte Spaßmacher wie Martin Sonneborn von der Partei Die Partei. Die Umsetzung seines Wahl-Programms erwartet kaum jemand, schon gar nicht seine Wähler – doch da mag man sich täuschen. Gut, die Wiedereinführung der lustigen Gurkenkrümmungsverordnung erscheint zwar aussichtslos, und die groß angekündigte monatliche Rotation und Diätenteilung mit Parteimitgliedern ist wegen der Parlamentsordnung auch schon ad acta gelegt. Aber die geforderte 17-Prozent-Quote für Faule in Wirtschaft und Gesellschaft kann zumindest im Parlament – laut Sonneborn zum guten Teilen eine Versammlung von Verhaltensauffälligen – als bereits erfüllt gelten. Dazu gehört er scheinbar selbst mal gern, zumal, wenn sich Faulheit und Verhaltensauffälligkeit so leicht verbinden lassen, wie beim Sitzenbleiben zur Europahymne.

Sitzen geblieben ist nämlich auch der Spaßmacher und fand sich in bester Gesellschaft – räumlich zumindest. Vor ihm haben die Sitzenbleiber vom Front National und der FPÖ ihren Sitz, dahinter wiederum die von der italinienischen Lega Nord, von denen einer dazu noch symbolisch in eine Burka gehüllt war. Symbol wofür? Für eigenartigen Humor zumindest. Sitzengeblieben sind auch ein paar von den Tories, zu deren Fraktion die Leute um Lucke von der Alternative für Deutschland gehören. Die wiederum haben sich mit ihrem Abgeordneten Hans-Olaf Henkel (74), den einstigen Chef des Bundesverbandes der deutschen Industrie und Hobby-Radiomoderator, den schalsten aller Euroskeptiker-Witze erlaubt: Hast du’n Opa, schick ihn nach Europa.

Straßburg gegen Straßburg - Tataa, tataa, tataa – so lustig also war das erste Gastspiel in neuer Besetzung vor knapp zwei Wochen in Straßburg. Und da gibt es doch tatsächlich welche, die bei dem Wanderzirkus nicht mehr mitmachen wollen. 73 Prozent der Abgeordneten hatten es am 21. November 2013 bekundet: Schluss mit lustig, und zwar ganz offiziell, per Abstimmung. Angezettelt wurde der Aufstand vom deutschen Grünen Gerald Häfner und dem britischen Konservativen Ashley Fox. Gemeinsam haben sie die Entschließung zur „Ein-Parlamentssitz-Frage“ ins Plenum eingebracht. „Straßburg gegen Straßburg“, titelte damals die Lokalzeitung DNA nach der Abstimmung. Die Initiatoren beteuerten ihre Unschuld: Es geht nicht um die Frage, Brüssel oder Straßburg, sondern um das „Selbstorganisationsrecht des Parlamentes“, das auch die Bestimmung seines Sitzes beinhaltet.

Ein einziger Parlamentssitz soll es nur noch sein, und wie einleuchtend sind doch die Begründungen: Ersparnis der enormen Kosten für Transport und Gebäude, die von den Initiatoren auf fast 200 Millionen Euro aufaddiert werden, die Effizienzverluste durch den Doppelsitz und die Ferne zu den anderen EU-Organen in Brüssel, die das Parlament doch kontrollieren soll, sowie die Vermeidung des von der Fahrerei erzeugten CO²-Ausstoßes, der plötzlich auch britischen Konservativen am Herzen liegt. Den meisten Abgeordneten erscheint wohl eher die Aussicht auf ein Ende der Reiserei, des Aktenschleppens und den lästigen Hotelübernachtungen besonders einleuchtend. Unter diesen Prämissen kann sich der eine Parlamentssitz nur in Brüssel befinden. Daraus machte seinerzeit Ashley Fox keinen Hehl, denn Straßburg befinde mit seinen erbärmlichen Fluganbindungen doch „am Ende der Welt“.

Bislang bleibt die Welt der Abgeordneten zweigeteilt, und Straßburg hat den lustigen Part: die Debatten. Die können sogar dann lustig sein, wenn es darin darum geht, sie dort, wo sie abgehalten wird, nicht mehr abzuhalten. Was aber wenn ein Vollblutdebattierer wie Daniel Cohn-Bendit von einer Debatte sagt, es sei „eine lustvolle, aber sinnlose Veranstaltung“? Dann ist was schiefgelaufen. Oder gerade richtig? Der aus dem europäischen Parlament ausgeschiedene Ex-Co-Vorsitzende der Fraktion der Grünen, bezog sich bei seinem Urteil auf die Aussichtslosigkeit, den Ein-Sitz-Beschluss schnell in eine Realität zu verwandeln. Denn der Doppelsitz ist ein Teil der Grundverträge der Europäischen Union. Trotz der Resolution werden Vertragsänderungen weiterhin im Ministerrat einvernehmlich mit der Zustimmung aller Regierungen der einzelnen Staaten entschieden. Und dann müssten die nationalen Parlamente in der EU sie noch ratifizieren – auch das französische. Das ist der wahre, wenig lustige Lauf der europäischen Dinge, und das wussten seinerzeit auch die Befürworter. Doch nun, nur sechs Monate später, konnte tief unten in den Katakomben des Parlamentes der Presse verkündet werden: es ist vollbracht, man habe einen rechtlichen Weg aufgezeigt, wie dieses Parlament doch noch zu seinem Selbstbestimmungsrecht kommen könne.

Demoskopie für Demokraten - Es ist die Fraktion der Grünen, die sich dieser „großen und dringenden Aufgabe“ verschrieben hat. Sie lud zur Pressekonferenz und man konnte erleben, wie viel Spaß es auch bereiten kann, doch noch Recht zu haben. Dafür lohnt es sich sogar als nicht-mehr-Abgeordneter nach Straßburg zu kommen. Zusammen mit der gerade zur Vize-Präsidentin gekürten Österreicherin Ulrike Lunacek legte Gerald Häfner eine eigens in Auftrag gegebene Umfrage vor, und siehe, die Demoskopen bescheinigen den Demokraten: wir wollen, was die Mehrheit der Europäer will. Und wenn das so ist, darf man auch mal tief in die Wortwahlkiste greifen: die Geiselhaft des Parlamentes durch den Europäischen Rat muss beendet werden; oder: man werde sich als Abgeordneter nicht mehr als unmündiges Kind behandeln lassen; und schließlich noch die Zauberformel, die heutzutage bei allen unsymetrischen Konflikten bemüht wird: Auf Augenhöhe werde man dem Rat von nun an gegenübertreten.

Und so kann es gehen, wenn man sich in Europa auf Augenhöhe begegnet: um das Veto Frankreichs gegen die Schließung des Standorts Straßburg im Europäischen Rat zu Fall zu bringen, genügt es, auf altbewährte Mittel zurückgreifen: die Peitsche und das Zuckerbrot – auch schlicht Erpressung genannt. Bei diesem Europoker darf seit der letzten Legislatur auch das Parlament mitspielen. Mit einer schlichten Mehrheitsentschließung im Rat können nun auch Punkte auf die Tagesordnung des Rates gesetzt werden, wenn es das Parlament verlangt. Und dann passiert, was immer passiert: unterschiedliche Anliegen werden zu einem Paket verschnürt, das keiner als Ganzes wirklich abzulehnen wagt. Schluss mit Veto, Schluss mit der Festlegung auf zwei Parlamentssitze, und schließlich Schluss mit Straßburg.

Nur der Bau mit dem gewaltigen Plenarsaal und den Hunderten von Zimmern und Zimmerchen wird sich per Ministerratsbeschluss nicht wegzaubern lassen. Der ist so groß, dass er selbst während er vier Tage nie ganz genutzt wird. So manche der Sprecherkabinen mit Blick auf die Rednertribüne dienen bloß als Abstellkammer für Pappkartons oder alte Computerbildschirme. Was also soll im Falle des Falles mit dem zirkusrunden Gebäudekomplex geschehen? Über die lästige Frage seiner Nachnutzung oder überhaupt-mal-Nutzung schweigen sich die Befürworter seiner Aufgabe bislang aus. Ist ja auch eine heikle, an der sich schon ganz andere die Finger verbrannt haben. Als der Franzose Daniel Cohn-Bendit etwa vorschlug, den Koloss als europäische Spitzenhochschule zu nutzen, verlor er die ihm eigentlich schon zuerkannte Ehrenmedaille der Stadt Straßburg.

Denkmal schon jetzt - Von der Stadtverwaltung wird jede Idee einer Alternative abgeblockt, weil sie einen Weg aufzeigt, das Parlament doch noch schließen zu können. Dabei könnte die Suche danach doch ziemlich unterhaltsam sein. Welch Spaß, sich mal vorzustellen, was man alles so in dem Gebäude anstellen könnte? Besseres jedenfalls, als jeden Monat einmal Akten in Büros einzuräumen und vier Tage später wieder auszuräumen. Was immer es aber wird, es bleibt, was es jetzt schon ist: ein Denkmal für überflüssige Hyper-Infrastrukturen.

Und für irrationale Diskussionen um den Sinn und Zweck von Großstrukturen: Denn natürlich ist ein Wanderzirkus diesen Ausmaßes irrational. Und natürlich sind die Reaktion von Straßburg auf die Schließungsbemühungen irrational. Denn was bringt das der Stadt wirklich, bis auf das für Hoteliers mit ihren überteuerten Zimmern so leicht verdiente europäische Steuergeld und die Kolportagen über Prostituiertenkaravanen? Europastadt ist die einstige freie Reichsstadt sowieso. In unmittelbarer Nähe zum EU-Parlament befindet sich der Europarat aus allen 47 Staaten des Kontinents und der europäische Menschenrechtsgerichtshof. Aber der EU-Parlamentssitz in Straßburg ist eben auch ein Symbol für die europäische Nachkriegsversöhnung, und Symbolik basiert nun einmal auf der irrationalen Überhöhung der Symbole. Wenn Symbolik dann auch noch auf staatsrechtliche Prinzipienreiterei trifft, nimmt die Auseinandersetzung nun einmal komische Züge an.

So dürfen sich also im Pressekonferenzsaal im Keller des Parlamentes die aufrechten Grünen der Frage einer belgischen Journalistin, ob es nichts wichtigeres als diesen symbolischen Kraftakt gäbe, womit man sich in Zeiten der Krise beschäftigen könne, mit den Worten erwehren: „Nein, in Zeiten, in denen wir den Bürgern das Sparen abverlangen, ist es wichtig zu zeigen, dass das Parlament in der Lage ist, bei sich selbst mit sinnvollen und nötigen Reformen zu beginnen“. Auf den Fluren des Parlamentes wiederum darf die Ex-Bürgermeisterin und Ex-EU-Abgeordnete Cathrine Trautmann auf die Frage, warum und wie lange noch den Abgeordneten die Reiserei abverlangt werden solle, sagen: für immer, weil es im Zusatzprotokoll zum Lissabonvertrages steht. Alle gemeinsam wissen aber wohl auch, dass alles noch eine Weile so bleibt, den Bürgern also viel abverlangt wird und den Abgeordneten das Reisen.

Wie immer in solchen Fällen, in denen auch viel Symbolik mitspielt, ist nun erst einmal eine parlamentarische Steuerungskommission gebildet worden. Die soll dann im September einen Weg weg aus Straßburg aufzeigen. Bis das dann soweit sein wird, gilt es eben, zu den Gastspielen des Wanderzirkus die gute Laune aus Brüssel mitzubringen. Wie das geht, hatten ja die besonders verhaltensauffälligen Komiker bei der Saisoneröffnung am 1. Juli gezeigt: man muss nur ein bisschen mit Symbolen rumkaspern, das reicht in diesem Europa schon als lustiger Politikersatz. Dazu bietet die Wahl des designierten Kommissionspräsidenten am Dienstag weitere tolle Gelegenheiten – verpasste sind es so oder so.

Michael Magercord arbeitet als freier Journalist für die ARD.

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