Europas Stunde der Wahrheit

In einem viel beachteten Interview mit der „Financial Times“ warnt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vor dem Zerfall der Europäischen Union. In dem Interview wechseln sich Licht und Schatten ab.

Um Zustände wie in der Bosch'schen Endzeitvision zu vermeiden, braucht es jetzt mutige, neue Ansätze. Foto: Hieronymus Bosch / Wikimedia Commons / PD

(KL) – Das Interview, das Emmanuel Macron der „Financial Times“ gewährte, war ein politisches Interview, etwas ganz anderes als seine letzten vier TV-Ansprachen, in denen er versuchte, die Wogen in Frankreich etwas zu glätten, was ihm allerdings nicht richtig gelang. In diesem Interview zeichnete er Welt- und Europaperspektiven auf, stellte Fragen und gab wenig Antworten. Trotzdem ein hoch interessantes Interview, das wiederum bei der Leserschaft verschiedene Fragen aufwirft.

Wenn ein Vertreter des glasharten Neoliberalismus den Kapitalismus in seiner jetzigen Form in Frage stellt, dann ist das schon erstaunlich. Bislang galt Macron in erster Linie als Verteidiger des großen Kapitals, mit diesem Interview zeigt er sich als Visionär, ob man ihn nun mag oder nicht. Es lohnt sich, dieses Interview anzuschauen oder anzusehen.

Es stimmt, bislang war der französische Präsident mit seinem Jupiter-Gehabe und seiner Politik, die eindeutig zugunsten von Big Business und zu Lasten der kleinen Leute ging, alles andere als ein Visionär. Ein Erfüllungsgehilfe der börsennotierten Unternehmen, doch sind seine Aussagen zu dem, was auf die Welt zukommt, völlig richtig.

Dass sich Europa grundsätzlich neu ausrichten muss, will es nicht auseinanderbrechen, das stimmt. Auch, wenn er selbst mit seinen Kollegen und Kolleginnen der EU im Grunde noch nicht viel anderes macht als vorher. Doch seine Definition dessen, was morgen der „Multilateriasmus“ sein muss, ist zutreffend. Es kann nicht um den Zerfall übergeordneter Strukturen gehen, sondern diese müssen neu und anders aufgestellt werden. Erstaunlich, dass ausgerechnet einer der strammsten Vertreter des globalisierten Wildwest-Kapitalismus nun das Ende eben dieser Globlisierung ankündigt, doch macht das seine Aussagen nicht weniger richtig.

Seine Angriffe gegen China kamen allerdings zu einem unpassenden Moment. Das geradezu drohend klingende “China wird uns einige Fragen beantworten müssen”, passt nun gerade überhaupt nicht in eine Situation, in der zunächst die sanitäre Krise zu überwinden ist. Ebenso, wie er gerne die Analyse der Fehler seiner eigenen Regierung erst nach dieser sanitären Krise sehen würde, ist es jetzt nicht der Zeitpunkt, einen Konflikt mit China zu suchen, zu einem Zeitpunkt, zu dem noch nichts, aber auch gar nichts über die weitere Entwicklung des Covid-19 bekannt ist.

Und natürlich hat er Recht, dass die Wirtschaft von morgen nicht mehr dem Shareholder Value dienen, sondern den Menschen nutzen muss. Eben denen, die auch gerade unter Macron bisher zu kurz gekommen sind und die, wie er richtig sagte, schon morgen unsere Länder in die Hände übelster Nationalisten à la Orban oder Erdogan spielen können. Keiner Wermutstropfen – das klingt wie Wahlkampf-Slogans, die man schon oft gehört hat, die aber nicht nie umgesetzt wurden. Jetzt wäre der richtige und vielleicht auch letzte Zeitpunkt dafür.

Es klingt schon ein wenig paradox, denn die Zukunftsvisionen des Emmanuel Macron sind praktisch das genaue Gegenteil dessen, was er bisher als seine Politik geführt hat. Sollte der Mann gerade tatsächlich umdenken? Wir werden es schon sehr bald sehen – denn heute steht der französische Präsident unter ungeheurem Druck, Ergebnisse zu liefern und die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Doch bislang verhallen seine Rufe nach mehr Europa im Nichts – vor allem aufgrund der Haltung Deutschlands und der Niederlande, zu denen sich schnell weitere Länder gesellen werden, denen Begriffe wie „Solidarität“ ziemlich fremd sind, zumindest, wenn sie viel Geld kosten. Die Kompromisse, zu denen sich die EU durchringt, sind das klassische Heilmittel. Krise = Geld als Kredite in den Finanzmarkt pumpen. Doch damit wird man dieser Weltenkrise nicht mehr gerecht.

So unbeliebt Emmanuel Macron heute auch sein mag – er war der erste, der das für Neoliberale entsetzliche Wort „Schuldenerlass“ in den Mund nahm. Wie ernst er es mit dieser Ausrichtung meint, das werden wir schnell erfahren. Doch sind Zweifel angebracht, ob die Riege der Merkel, Rutte & Co. geistig in der Lage ist, eine 180 Grad-Wende zu vollführen. Die Menschen erwarten diese Wende allerdings. Vielleicht sollte auch Europa Macron zuhören und ihn dann in die Pflicht nehmen. Denn so lange seine Visionen und Theorien eben Visionen und Theorien bleiben, sind sie völlig nutzlos. Schauen Sie sich das Interview an und bilden Sie sich eine eigene Meinung. Für irgendwelches parteipolitisches Geplänkel ist in dieser Krise ohnehin kein Platz mehr. Ab sofort kann es nur noch eines geben – alles auf den Prüfstand stellen und das verändern, was verändert werden muss. Wer heute noch meint, dass die Welt nach dieser Krise nach den gleichen Regeln wie zuvor funktionieren kann, der hat den Ernst der Lage noch nicht verstanden.

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