Europas Zukunft entscheidet sich am Bosporus

Die uneingeschränkte Machtposition Erdogans ist auch das Ergebnis einer Jahrzehnte langen Fehlentwicklung der europäischen Politik.

Zwei, die sich gut verstehen. Hoffentlich nicht zu gut. Foto: Dorian Jonas / VOA / Wikimedia Commons / PD

(KL) – Die Türkei folgt dem Vorbild Russlands und führt für den neu gewählten Präsidenten Recep Erdogan ein Präsidentenamt ein, das wie im Reich des Zaren die Macht dorthin verschiebt, wo Erdogan gerade ist. Während westliche Beobachter vor allem die moslemische Ausrichtung Erdogans in der ansonsten laizistischen Türkei kritisieren, vergessen wir gerne, dass Europa Erdogan erst zu dem gemacht hat, was er heute ist. Angesichts der geopolitischen Realitäten hängt ein guter Teil der europäischen Zukunft am Verhältnis zwischen der EU und der Türkei.

Das Ergebnis stand bereits in der Nacht fest und überraschte niemanden. Recep Erdogan erreichte 51,96 % der Stimmen, der gemeinsame Kandidat der beiden größten Oppositionsparteien CHP und MHP, Ekmeleddin Ihsanoglu, erreichte 38,33 % und der Kurde Selahattin Demirtas 9,71 %.

Dass der AKP-Chef so deutlich siegen würde, war klar. In unruhigen Zeiten wollen die Türken einen starken Mann an der Spitze sehen, auch, wenn dieser mehr Machtansprüche an sein Amt stellt, als das bisher üblich war. Da Erdogan nicht noch einmal als Regierungschef antreten konnte, zieht er sich nun auf das Amt des Präsidenten zurück, das er wie Putin so ausgestalten wird, dass er weiterhin die türkische Politik bestimmen wird.

Ein weiteres Mal wird nun am Bosporus Geschichte geschrieben werden. Nachdem die Türkei seit Jahrzehnten aus dem europäischen Haus ausgeschlossen blieb, wuchs bei den Türken eine Art neues Nationalbewusstsein heran, ein Bewusstsein der eigenen Stärke, vor allem in einer Führungsrolle für die an Ressourcen reichen „Turk-Staaten“, also die ehemaligen GUS-Republiken, in denen eine Turk-stämmige Kultur und Sprache herrschen, wie Turkmenistan und andere.

In welche Richtung wird sich die Türkei nun bewegen? Immerhin grenzt die Türkei an mehrere Konfliktherde, mit Grenzen zu Syrien, zum Irak und – zu Europa. Auch die Kurdenfrage ist von zentraler Bedeutung und birgt erneut großes Konfliktpotential. Außerdem wüten im Nachbarland die fundamentalistischen Terroristen der ISIS und ein Überschwappen solcher radikalislamischer Ideen und Tendenzen in die Osttürkei ist ebenfalls vorstellbar.

Das türkische Selbstverständnis hat unter der langen Ablehnung durch die EU stark gelitten und eine Art Gegenströmung ausgelöst. „Wenn ihr uns nicht wollt, dann geht es eben ohne euch“, so die Haltung in weiten Kreisen der türkischen Bevölkerung. Dass sich die Türkei angesichts des europäischen „Nein, wir schauen mal später“ anderweitig orientiert, kann man ihr nicht verdenken. Gleichzeitig ist die Türkei durch ihre Mitgliedschaft in der NATO trotzdem in die westlichen Systeme eingebunden, hat aber künftig alle Optionen.

Es liegt auf der Hand, dass Wladimir Putin auf seiner Suche nach neuen Partnern auch der Türkei schöne Augen machen wird. Mit den BRICS-Staaten hat Putin bereits die wirtschaftlichen und politischen Anbindungen zu den neuen, aufstrebenden Großmächten China, Indien, Brasilien und Südafrika gelegt, weswegen eine Vertiefung der Beziehungen zu Russland für die Türkei interessanter sein könnte als das Verhältnis zur EU. Kühl und marktwirtschaftlich gedacht dürften privilegierte Beziehungen zu einer Struktur, in der die Hälfte der Weltbevölkerung lebt, interessanter sein als die Beziehungen zur EU, in der 500 Millionen Menschen leben und die außerdem den türkischen Nationalstolz seit Jahren verletzt.

Die EU und der gesamte Westen müssen aufpassen – sollte sich die Türkei stärker in Richtung Osten orientieren, wofür es aus türkischer Sicht eine Menge guter Gründe gäbe, würde dies eine direkte Anbindung der russischen Machtsphäre an den Nahen Osten und Afrika bedeuten. Wie positiv sich das für die dortige Region auswirken könnte, sieht man heute bereits in Syrien, wo sich Diktator Assad nur dank der russischen Unterstützung im Amt halten kann.

Sich heute darüber zu wundern, dass Recep Erdogan sein Volk mit einer neuen, stark religiös angehauchten Strategie hinter sich vereinen konnte, ist auch das Ergebnis der nicht erfolgten europäischen Integration der Türkei. Diese fand auch deswegen nicht statt, weil sich christliche Fundamentalisten beispielsweise in Polen standhaft weigern, die überwiegend moslemische Türkei als Teil der europäischen Familie zu betrachten. Ein großer Fehler.
Die Türkei würde, wäre sie denn Mitglied der EU, die sechstgrößte Volkswirtschaft der EU-Mitgliedsstaaten stellen – ein enormer und vor allem entwicklungsfähiger Markt, der umso mehr Potential bietet, je weiter man nach Osten kommt. Doch während die Europäer dies nicht erkennen, haben andere das Potential der Türkei längst erkannt.
Europa wäre gut beraten, sich die eigene Position gegenüber der Türkei Recep Erdogans noch einmal gut zu überlegen. Spätestens seit dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts wissen wir, dass politische Konstellationen nicht für die Ewigkeit gemacht sind. Sollte sich sich die Türkei in Richtung der neuen, starken BRICS-Achse orientieren, würde Europa den Anschluss an die östliche Sphäre dieses Planeten verlieren. Doch muss man leider damit rechnen, dass sich einmal mehr in Europa die Kleinkarierten und eher national-christlich orientierten Positionen durchsetzen werden. Die genauso anachronistisch wie die moslemischen Fundamentalisten sind.

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