EuTalk: Gewalt, Frauenrechte, Türkei und ein bisschen mehr

Die türkische Soziologin O.S. beschreibt die aktuelle Situation der Frauen in der Türkei. Kein Wunder, dass sie diesen Artikel unter einem Pseudonym schreiben musste...

Juli 2020 - Frauen demonstrieren in der Türkei für ihre Rechte. Foto: O.S. / Eutalk

 (O.S. / EuTalk) – Ich habe eine Weile gebraucht, um mit dem Schreiben dieses Artikels anzufangen und dafür gab es mehrere Gründe. Mehr Arbeit zuhause mit nicht enden wollenden Arbeitszeiten aufgrund der Pandemie, dazu gleichzeitig Wut, Konfusion, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit aufgrund der immer heftigen Nachrichtenlage in der Türkei und nicht wissen, wo man beginnen soll… Doch dann entschloss ich mich mit dem Grund zu beginnen, warum ich das Gefühl hatte, diesen Artikel nur mit meinen Initialen zeichnen zu können und den Namen meiner Organisation geheim zu halten. Ja, da ist die Angst. Aber nicht nur die Angst um sich selbst, sondern auch die Angst um meine Kollegen, meine Organisation, viele Frauen, denen meine Organisation hilft und viele mehr, die künftig Hilfe benötigen werden.

Um diese Angst vor der aktuellen politischen Lage in der Türkei gleich richtig darzustellen: Das jüngste Gesetz, das Ende 2020 verabschiedet wurde, erlaubt es der türkischen Regierung, alle zivilgesellschaftlichen Organisationen zu schließen, die im Bereich der Frauenrechte, Flüchtlinge oder Rechte für LGBTQI+ arbeiten. Hierzu reicht die Unterschrift eines Mannes auf Grundlage einer „Terror“-Anschuldigung; die Kriminalisierung und Stigmatisierung der Opposition passiert jeden Tag in der Türkei. Anders gesagt, das Schreiben eines kritischen Artikels für die ausländische Presse oder die Teilnahme an einer öffentlichen Demonstration kann eine Kettenreaktion auslösen, die zur Zerstörung einer ganzen Organisation führen kann, für die man angestellt oder ehrenamtlich arbeitet – so einfach ist das. Und daher werde ich nicht das Risiko eingehen, diesen Artikel mit meinem Namen zu zeichnen.

Eigentlich hatte ich vor, vor allem einen Artikel über geschlechtsspezifische Gewalt in der Türkei zu schreiben, insbesondere vor und nach dem türkischen Rückzug aus der „Istanbul Convention“ am 20. März 2021 um Mitternacht. Aber in diesem Artikel wird es um mehr gehen. Ich habe das Gefühl, dass zunächst einige Hintergrund-Informationen nötig sind. Und ich werde auch ein paar Worte zum Wind des Schweigens sagen müssen, der still aus dem Westen zu uns herüber weht.

Politischer Wille und soziale Aktion – Ich bin seit 2011 Mitglied einer Frauenrechte-Organisation, die versucht, Solidarität mit vielen Frauen mit verschiedenen Hintergründen, aus verschiedenen sozialen Klassen, Herkunft und legalem Status aufzubauen, mit Bürgerinnen, Flüchtlingen oder Migrantinnen. Als Frau, die im Bereich der Gender-spezifischen Gewalt tätig ist, bin ich sicher, ebenso wie viele meiner Kolleginnen, dass Gewalt nicht einfach so passiert. Man kann Gewalt nicht auf einen „Akt gestörter Personen“ reduzieren oder diese Gewalt unabhängig von den Beziehungen der Geschlechter in einer Gesellschaft betrachten. Gewalt entwickelt sich durch Ungleichheit und verschiedene Formen von Diskrimination, mit denen Frauen jeden Tag ihres Lebens konfrontiert sind. Gewalt ist ein gesellschaftliches Phänomen und kann so lange nicht behoben werden, wie alle Formen der Ungleichheit und Diskrimination nicht mit politischem Willen und sozialen Aktionen bekämpft werden. Doch was passiert, wenn der politische Wille zur Behebung von Ungleichheiten nicht vorhanden und kein Platz für soziale Aktionen gegeben ist? So, und nun können wir über die besondere Situation in der Türkei reden.

Die Frauenbewegung, eine der lebendigsten politischen Bewegungen in der Türkei seit Ende der 80er Jahre, hat hart gekämpft und unter schwierigen Umständen viele Rechte in den beiden letzten Jahrzehnten erlangt. Nach dem ersten nationalen Gesetz zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen (4320) aus dem Jahr 1998, wurden viele grundlegende Reformen der Verfassung, des Bürgerlichen Gesetzbuchs und des Strafgesetzes durchgeführt und mehrere Kommissionen wurden im Parlament zwischen 2001 und 2010 gebildet, die sich mit der Gleichstellung der Geschlechter beschäftigen. Dies erfolgte Dank des unermüdlichen Einsatzes der Frauenbewegung und von Feministinnen. Wir waren überall dort, wo wir sein mussten, wir schrien auf der Straße, debattierten bei öffentlichen Diskussionen, hielten Mahnwachen an den Toren des Parlaments und verteidigten unsere Rechte in den Gerichten. Die „Istanbul Convention“ wurde von der Türkei am 11. Mai 2011 unterzeichnet und das neue türkische Gesetz zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen (6284) folgte am 8. März 2012 mit einem parallel eingeführten rechtlichen Rahmen. Sie stellen sich jetzt sicher die Frage „War in diesen Jahren nicht der gleiche Erdogan an der Macht?“ Nun, ja und nein. Dies waren die Jahre, als Erdoğan noch in Richtung Westen und dem Rest der Welt die Karte der Demokratie spielte; damals war auch die EU-Mitgliedschaft der Türkei noch ein Thema; der empörende Flüchtlingsdeal zwischen der Türkei und der EU war noch nicht auf dem Tisch; Frauenrechte-Organisationen und anderen NGOs hatten damals noch die Chance, einen Platz an den Verhandlungstischen zu finden, es gab einen sogenannten Friedensprozess zur kurdischen Frage, trotz der heuchlerischen Haltung der AKP (der Erdoğan-Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) und diese Liste könnte endlos weitergeführt werden.

Meilensteine des Absturzes – Ich kann kein konkretes Datum benennen, an dem sich die Dinge für Frauen zum Schlechten wendeten, aber ich möchte an ein paar Meilensteine der jüngeren Geschichte der Türkei erinnern. Der 2012 erfolgte Umbau des Ministeriums für Frauenangelegenheiten ins Ministerium für Familien- und Sozialpolitik war ein Alarmsignal, das bereits eine Ahnung davon vermittelt, welches Bild der Rolle der Frau in der Türkei in den Köpfen der AKP besteht. Erdoğan selbst stärkte mehrfach diese Mentalität der „heiligen Familie“, indem er den Frauen riet zu heiraten und mindestens drei Kinder zu gebären, um gute türkisch-moslemische Frauen zu sein. Es wurde deutlich gemacht, dass Frauen, die außerhalb dieses Rahmens leben, „nicht akzeptabel“ sind. Ein weiterer wichtiger Meilenstein kam gleich nach dem Roboski-Massaker, als Erdoğan, statt dieses schreckliche Verbrechen, dass eine Armee gegen sein eigenes Volk verübt hatte, zu untersuchen, die Opposition in Wut versetzte, als er sagte „Roboski war kein Massaker, aber Abtreibung ist eines“ und Millionen wütender Frauen in den Straßen demonstrierten. Dies war nicht nur ein Versuch, die Agenda des Landes zu verändern, sondern auch ein Zeichen, dass die Regierung eines der am schwersten von Frauen in der Türkei erkämpften Rechte angreifen würde. Am Ende schafften sie es nicht, das Gesetz abzuschaffen, aber sie führten eine Reihe von Beschränkungen ein, die viele Frauen am Zugang zu einer kostenlosen und risikofreien Abtreibung in staatlichen Krankenhäusern hinderten.

Ein anderes Zeichen auf diesem steinigen Weg zur vollständigen Aufgabe der Gleichstellungs-Ziele war 2015 die Gründung der Kommission zur Untersuchung von Scheidungen im Parlament. Ich gehe davon aus, dass wir alle schlau genug sind um zu verstehen, was die Regierung unter „Scheidungen untersuchen“ versteht. Die Kommission zielt nur darauf ab, die Scheidungsraten zu senken, statt Gewalt gegen Frauen und Feminizide zu verhindern und wirksame Mechanismen einzuführen, mit denen Frauen vor Gewalt geschützt werden können. Dies zeigte deutlich die nationalistisch-islamistische Mentalität, in der Frauen und Kinder systematisch zu Opfern von Gewalt werden können, so lange die heilige Institution der Familie intakt bleibt.

Einer der wichtigsten Punkte auf der Agenda für Frauenrechte war letztes Jahr das Strafgesetz Nr.103, der Vorschlag einer Gesetzesänderung, die eine Amnestie für Vergewaltiger von Minderjährigen vorsah. Dieser Vorschlag war bereits 2016 ins türkische Parlament eingebracht, dann aber mit den Stimmen der Opposition abgelehnt worden, nachdem es überall im Land zu massiven Frauendemonstrationen gekommen war. Der zweite Versuch, dieses Gesetz durchzubringen, erfolgte 2020 und es wurde noch keine abschließende Entscheidung getroffen.

Unsere Erfahrung und unser kollektives Gedächtnis – Ich könnte an dieser Stelle zahllose Beispiele aus unserem täglichen Leben aufzählen. So kann ein Finanzminister, der erklärt, dass „die Arbeitslosigkeit daher steigt, weil Frauen Arbeit suchen“ seinen Job weiter behalten (März 2009). Ein Universitäts-Rektor kann eine Untersuchung eines Kurses starten, da dieser den Namen „Gleichstellung der Geschlechter“ trägt (März 2021). Ein Regierungssprecher kann eine weibliche Abgeordnete mit den Worten „Sie als Frau haben zu schweigen!“ zurechtweisen (Juli 2015). Ein Gesundheitsminister kann sagen „die einzige Karriere einer Frau sollte die Mutterschaft sein“ (Januar 2015) und trotzdem seinen Job behalten. Der Bürgermeister der türkischen Hauptstadt kann einer vergewaltigten Frau empfehlen, lieber Selbstmord zu begehen als eine Abtreibung vorzunehmen (Juni 2012). Der Premierminister des Landes darf sagen, dass die Gewalt gegen Frauen überzogen dargestellt wird (März 2011) und dem ganzen Land die Nachricht bringen „dass die Gleichstellung der Geschlechter gegen die Kreation von Frau und Mann ist“ (und das bei jeder sich bietenden Gelegenheit wiederholen).

Dies sind nicht nur ein paar Worte, die aus den Mündern von ein paar Männern kommen. Dies sind die Auslöser von Gewalt gegen Frauen in jeder Form. Dies sind die Puzzlestücke unseres schmerzhaften kollektiven Gedächtnisses. Dies sind die Schritte des Aufgebens einer Zukunft, die Gleichheit und ein Leben ohne Diskriminierung und Gewalt für Millionen Frauen und Mädchen bedeuten könnte. Diese Worte haben einen Einfluss auf Beamte in den Sicherheitskräften, den Gerichten, dem Gesundheitssystem, die Frauen dabei unterstützen sollten, ihre Rechte geltend zu machen. Diese Worte beeinflussen den Diskurs der Medien. Dies sind die Worte, die zu allen Formen der Gewalt gegen Frauen zuhause, in der Schule, auf der Straße, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, bei der Arbeit führen – diese Gewalt, zu der die türkische Regierung nicht einmal systematisch Daten erhebt oder gar zur Verfügung stellt. Natürlich ist das Fehlen von Daten über geschlechtsspezifische Gewalt bereits eine Information, die zeigt, was und wer wichtig ist und man erkennt dadurch die Prioritäten des Staats. Aber wir als Frauenrechts-Organisationen in der Türkei haben die Geschichten und Erfahrungen und ein eigenes „Meer von Daten“ zum Thema der Gewalt gegen Frauen.

In den letzten sechs Jahren, in denen ich mit Frauen im Bereich der gender-spezifischen Gewalt gearbeitet habe, bin ich so vielen Formen der Gewalt begegnet, von frühen arrangierte Hochzeiten bis zur Vergewaltigung in der Ehe; von Zwangsprostitution zu vollständiger physischer Isolation; von psychologischer Gewalt bis zum Mobbing am Arbeitsplatz. Und das Schlimmste: Feminizide. Eine steigende Zahl der Feminizide. Seien wir klar hierzu: Sobald Frauen einen sicheren Platz finden, wenn sie Solidarität erfahren, dann finden Frauen den Mut zu sprechen. Aber leider ist die Türkei weit davon entfernt, ausreichend sichere Plätze für Millionen von Frauen und Mädchen zu bieten. Das Gegenteil ist der Fall, diese Plätze werden immer weniger. Und viele Frauen haben völlig zurecht kein Vertrauen in das System, so dass sie Gewalt nicht zur Anzeige bringen. Sie haben kein Vertrauen, dass Frauenhäuser sicher für sie und ihre Kinder sind; sie glauben nicht daran, dass das System sie auf ihrem Weg unterstützt. Woher sollten sie dieses Vertrauen auch haben? Wie könnten sie vertrauen? Wie können sie einem System vertrauen, wenn die Menschen, die ihre Rechte schützen sollen, genau diejenigen sind, die diese Rechte untergraben? Diese Leute sind es doch, die ihre Peiniger durch ihren Diskurs und ihre Aktionen ermutigen. Diese Leute sind es, die sich durch den Schatten der „Istanbul Convention“ gestört fühlten, auch, wenn diese Konvention nicht einmal in der Türkei implementiert worden war.

Und dann die Covid-19-Pandemie… - Während diese sanitäre Krise Menschenleben auf der ganzen Welt zerstörte, erfuhr eine andere Pandemie, nämlich die Gewalt, einen unglaublichen Anstieg. Die türkische Statistik im Bereich der gender-spezifischen Gewalt war bereits vor der Pandemie erschreckend, und das war natürlich bevor Millionen Frauen gezwungen waren, „daheim“ mit ihren Peinigern zu bleiben. In dieser Situation haben sie keinen Zugang zu den Schutzmechanismen, in den Polizeistationen wurden sie abgewiesen. Sie wurden nicht in den Frauenhäusern aufgenommen, da sie keine negativen Covid-Tests vorweisen konnten. Und das waren viele Frauen… die eigentlich durch die „Istanbul Convention“ geschützt werden sollten, aber auch durch ihre Regierung über das Gesetz Nr. 6284. Alleine im Jahr 2020 wurden 300 Feminizide und 171 verdächtige Todesfälle von Frauen registriert. (Bericht 2020 von „We Will Stop Femicides“). Dazu kommen 79 Feminizide und 45 verdächtige Todesfälle von Frauen in ersten Quartal 2021. (Monatsberichte 2021 „We Will Stop Femicides“).

Ausstieg aus der Konvention – Wir wissen, dass genderspezifische Gewalt nicht durch ein paar Gesetze und die Unterzeichnung von Konventionen gestoppt werden kann und dass damit auch keine Gleichstellung der Geschlechter erreicht wird. Eine solche Entwicklung erfordert politischen Willen und soziale Aktionen, wie bereits erwähnt. Wir sind uns aber auch bewusst, dass diese Vereinbarungen, Gesetze und Konventionen unsere Rechte garantieren, die wir durch unseren Kampf erreicht haben. Es handelt sich um die Werkzeuge, die wir nutzen können, um unser Leben als Frauen zu verändern. Man kann sie uns nicht nehmen, nur weil sich ein paar Männer von unseren Stimmen, unserem Selbstvertrauen und unserem Durchhaltevermögen gestört fühlen. Die Entscheidung des Präsidenten vom 20. März, als er erklärte, dass sich die Türkei aus der „Istanbul Convention“ zurückzieht, war ein Bruch der Verfassung, da der Ausstieg aus einer internationalen Konvention, die einstimmig vom Parlament verabschiedet worden war, nicht von einer einzigen Person per Gesetz entschieden werden kann. Allerdings ist der Rechtsstaat in der Türkei schon seit langem in einen AKP-Staat verwandelt worden.

Als Feministinnen, als Frauenbewegung in der Türkei, sind wir natürlich entmutigt, aber nicht ohne Hoffnung. Der Kampf um Gleichstellung hat nicht mit der „Istanbul Convention“ begonnen und er wird auch nicht mit dem Ausstieg der Türkei enden (der nach wie vor für Millionen Frauen inakzeptabel ist, die weiterhin trotz der Pandemie und der Polizeigewalt überall in der Türkei demonstrieren). Aber es ist definitive ein beunruhigendes Zeichen, dass die Ziele der Gleichstellung der Geschlechter insgesamt aufgegeben wurden und ein enormer Schritt in Richtung einer sozial, kulturell und institutionell noch patriarchischeren Gesellschaft gemacht wurde. Diese Entwicklung trägt bereits ihre ersten giftigen Früchte: Frauenmörder rufen täglich ihre Anwälte an um zu fragen, ob ihre Strafen nicht reduziert werden können, „da sich die Türkei aus der Konvention verabschiedet hat“. Männer lassen sich anwaltlich beraten, wie sie Unterhaltsforderungen von Frauen abschmettern können. Richterliche Verfügungen in diesem Zusammenhang sind schwerer zu erhalten und werden jetzt nur für kürzere Zeiträume ausgesprochen. Die Lage wird ständig verrückter und es ist fast so, als ob die Mysogynen um die Ecke warten, um Frauen angreifen zu können und auch, um die Konvention angreifen, welche die Gefühle von so vielen Männern verletzt hat, obwohl sie nie implementiert wurde und der die Superkraft angedichtet wird, „uns alle in LGBTQI+“ zu verwandelt (doch, doch, ernsthaft!). Und die Angriffe auf unsere Rechte gehen weiter, genau jetzt, wo ich dies schreibe.

Eine ohrenbetäubende Stille und neue Migrationswellen, die auf uns zukommen – Und während all das passiert, begnügen sich der Westen und vor allem die Europäische Union mit einem „kein Kommentar“. Es ist nicht so, dass ich auf Erlösung aus dem Westen warte. Ganz und gar nicht. Daran habe ich nicht in den 90er Jahren geglaubt, einer anderen dunklen Periode in der Türkei, und daran glaube ich auch heute nicht. Allerdings muss man festhalten, dass der „Traum der EU“ früher viele türkische Regierungen veranlasst hatte, Menschenrechte zu beachten, insbesondere vor der syrischen Flüchtlingskrise und dem widerlichen Flüchtlingsdeal 2016 zwischen der EU und der Türkei. Wenn sich Erdoğan heute immer aggressiver und rücksichtsloser verhält, wenn die Korruption die neue Religion in der Türkei geworden ist, wenn sich die Jugend immer hoffnungsloser und prekär fühlt, wenn sich die Menschen nicht mehr trauen, offen gegen den offiziellen Diskurs zu sprechen, wenn Frauen, Kinder, LGBTIQ+s, Flüchtlinge sich nicht mehr frei und sicher fühlen können, dann liegt das daran, dass Erdoğan weiß, dass ihn niemand ernsthaft daran hindern wird. Er weiß, dass er über ein mächtiges Druckmittel verfügt und er zögert nicht, dieses bei jeder sich bietenden Gelegenheit einzusetzen.

Da die Türkei die Grenzpolizei der EU geworden ist, sind die Dinge sozial, politisch und wirtschaftlich für einen großen Teil der türkischen Gesellschaft den Bach herunter gegangen, speziell für junge Menschen, Frauen, LGBTIQ+s, die nicht länger hier leben möchten. Sie beantragen Asyl in anderen Ländern, sie nutzen jede sich bietende Gelegenheit, das Land zu verlassen und anderswo zu leben. Anders gesagt, die Tatsache, dass die EU der Türkei Milliarden dafür bezahlt, Flüchtlinge von Europa fernzuhalten, löste sie eine Massenflucht türkischer BürgerInnen aus, die ihr eigenes Land verlassen, wo sie keinen Zugang zu ihren Rechten haben, keine sicheren Jobs finden, nicht offen sprechen und sich sicher fühlen können.

Und wo, glauben Sie, werden diese türkischen Massen Asyl suchen? Ich denke, dass wir alle die Antwort kennen.

Ich hatte eigentlich nicht vor, einen so langen Text zu schreiben, aber ich bin trotzdem froh es getan zu haben. Ich konnte an dieser Stelle nur einen kleinen Teil dessen aufschreiben, was ich denke und fühle. Aber ich möchte diesen Artikel damit beenden, dass ich sage, wie sehr ich der inneren Kraft und Kompetenz der Aktionen vertraue, die ich in der türkischen Frauenbewegung erkenne. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Frauenbewegungen und Feministinnen noch jeden Angriff überstanden haben und jedes Mal gestärkt aus solchen Angriffen hervorgegangen sind. Jeden Tag begegne ich vielen Frauen, die hart dafür kämpfen, weiter auf ihren Füssen zu stehen, sich um ihre Familien zu kümmern, Solidarität mit anderen Frauen aufzubauen, versuchen kollektive Lösungen zu finden, ein gewaltfreies Leben aufzubauen und andere zu inspirieren, trotz aller dieser Angriffe.

Es ist ein schlimmes Gefühl, permanent in der Defensive zu sein, besonders gegen eine Mentalität, die jeden Winkel des sozialen Lebens dominiert, aber heute sind Frauen organisierter und lokal und international besser vernetzt als je zuvor. Und der Kampf ist alles andere als vorbei.

O. S. ist eine türkische Soziologin, Mitglied eines Vereins zur Verteidigung von Frauenrechten und Autorin bei Eutalk.eu / Übersetzung aus dem Englischen Kai Littmann/ Foto: Izmir, Juli 2020, Demonstration von Frauenverbänden für die Implementierung der „Istanbul Convention“ / Autor: O.S.

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