EuTalk: Und wie geht es in Russland weiter?

EU-Russland: „Mehr noch als uns zu fragen, wann das Regime Putin vorbei sein wird, sollten wir uns fragen, ‘wie’ das passieren wird“

Ilia Ponomarev, einer der führenden oppositionellen Politiker in Russland. Foto: Rodrigo Fernandez / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0

(Olivier Védrine / Christophe Nonnenmacher EuTalk) – Weißrussland, Ukraine, die Befürchtungen der baltischen Staaten, Unterdrückung pro-demokratischer Bewegungen in Russland. Während einige Analysten der Situation schon ein düsteres Bild des Endes der chaotischen Ära Putin vorhersagen, stellt sich für den ehemaligen Abgeordneten der russischen Duma Ilia Ponomarev nicht so sehr die Frage, wann Putin die Macht abgeben muss, sondern wie dies relativ kurzfristig geschehen kann und mit wem. Für Ponomarev sind Nawalny oder Khodorkovski keine Optionen.

„Ist Putin krank?“ – wenn man hört, was der Politologe Valery Solovei zu sagen hat, klingt diese Frage wie eine Provokation. Die scharf formulierte Antwort von Ilia Ponomarev, dem ehemaligen Abgeordneten der russischen Duma, klingt ein wenig zynisch, stellt aber dennoch die grundlegende Frage: „Psychisch, ja, er ist krank und das kann im Grunde jeder beweisen. Sie müssen kein Experte sein, um das zu erkennen. Körperlich ist er zwar kein junger Mann mehr, aber ich glaube nicht, dass er eine lebensbedrohende Krankheit hat“. Ponomarev sagt, dass er nicht die Gründe kennt, die Valery Solovei zur Verbreitung dieser „Information“ veranlasst haben, aber die Bemerkung des früheren Abgeordneten hält fest, dass die Dienste des Kreml sie nicht etwa dementieren, sondern „ihre Verbreitung fördern“. Dafür gibt es einen einfachen Grund: „Wenn diese Information eines Tages stimmen wird, dann glaubt sie niemand mehr“, was für einige den Vorteil mit sich bringen wird, dass sie sich an der Macht werden halten können.

Was die Ukraine angeht, „kann Putin sie natürlich angreifen“, doch sieht Ponomarev in der Verstärkung der russischen Truppen an der Grenze vor allem ein Druckmittel auf Kiew, damit die Städte Donetsk und Lugansk nicht wieder in den Einflussbereich der Ukraine fallen. Sollte dieser Fall eintreten, würde die reguläre ukrainische Armee, die in einem Umkreis von 5 km präsent ist, den selbsternannten Republiken jede Hoffnung auf eine pro-russische und separatistische Zukunft nehmen. Und diese Strategie wird der Kreml auf keinen Fall erleichtern wollen.

Das Erbe von Boris Jelzin – „Was heute in Russland passiert, erinnert mich auf eine Weise an das Regime von Napoleon III. im 19. Jahrhundert. Man beobachtet die gleiche Allianz zwischen Sicherheitskräften, Bürokratie und Oligarchen. Es handelt sich um die gleichen Macht-Strategien, bei denen gefälschte Volksabstimmungen und Wahlen stattfinden, die Medien und das Parlament kontrolliert werden. Die damalige Epoche ähnelt stark der heutigen Zeit, sagt Ponomarev. Der Zusammenbruch des Regimes von Napoleon III. begann mit der Niederlage 1871 gegen die Preußen. Daher glaube ich, dass Putin auf einen offenen Krieg gegen die Ukraine verzichten wird, denn er kann nicht sicher sein, dass ein solcher Krieg erfolgreich wäre, was zweifelsohne seine Regierung zu Fall bringen würde. Putin ist zu intelligent, um ein solches Risiko einzugehen“.

Umgekehrt würde ihm eine Stärkung seiner Rolle in Weißrussland ermöglichen, sein Image eines Staatenlenkers aufzupolieren, der in der Lage ist, seinem Land den Anstrich einer Supermacht zu geben, was ihm deutlich mehr bringen würde als seine Fühler nach der Ukraine oder den baltischen Staaten auszustrecken, wie das manche glauben. „Wissen Sie, der ‘Putinismus’ ist wirklich ein seltsames Phänomen, das in den 90er Jahren künstlich von den russischen Liberalen erschaffen wurde. Putin musste sich nicht auf der Leiter der Macht hochhangeln. Er musste sich nie wirklich offenen Wahlen mit echten Gegenkandidaten stellen. Er wurde einfach von der Familie Jelzin ausgewählt, um den Wild-West-Kapitalismus zu schützen, den die Familie Jelzin selbst mitgeholfen hatte einzuführen. Und das war erfolgreich. Nicht nur, dass Putin ihr Kapital schützt, aber er hat auch den verschiedenen Eliten des Landes ermöglicht, selbst an diesem Kapitalismus teilzuhaben. Dabei zählt Mikhaïl Khodorkovski, der frühere Vorstandschef des russischen Ölgiganten Loukos, nicht zu den Nutznießern, da er sich geweigert hatte, nach den Regeln von Wladimir Putin zu spielen. Dafür erlebten diejenigen, die diese Regeln akzeptierten, eine wundersame und extreme Vermehrung ihres Vermögens“.

Die Seilschaften – Diese Seilschaften, die geschickt vom russischen Staatschef aufgebaut wurden, ermöglichen ihm heute, alle Aspekte der Macht zu überblicken und zu beherrschen: „Putin ist gleichzeitig die Kontrolle und das Gleichgewicht des Landes. Er ist in allen Institutionen präsent. Die Macht, und das haben wir in der Zeit mit Medvedev gesehen, liegt nicht in der Hand eines Präsidenten, sondern in den Händen Putins. Die Macht befindet sich auch nicht im Parlament oder der Regierung, sondern in den Händen Putins. Sobald Putin aber nicht mehr da sein wird, bricht ein Kampf zwischen all den anderen führenden Köpfen des Systems aus und der Gewinner wird meiner Ansicht nach die finsterste, gewalttätigste und grausamste der in Frage kommenden Personen sein, wie beispielsweise Igor Vsevolodovitch Guirkine, genannt Strelkov, der für sein fragwürdiges Engagement in der Ukraine bekannt ist. Sollte dieser zu erwartende Machtkampf aber ohne eindeutigen Sieger bleiben, wäre der Zusammenbruch des Landes nicht mehr auszuschließen“.

Eine neue Generation möglicher politischer Führer – Könnten Navalny oder Khodorkovski eine sanftere, demokratischere Option sein? Ilia Ponomarev gibt sich keinen Illusionen hin und unterstreicht, dass eine solche Option momentan nicht existiert, da die Russen noch nie viele Sympathien für die Liberalen hatten. Aber wer dann? „Man kann nicht ausschließen, dass eine neue Generation möglicher politischer Führer heranwächst, entweder seitens der Linken oder der Nationalisten, die allerdings tatsächlich neue Gesichter sein müssen, an deren Händen kein ukrainisches Blut klebt. Solche neuen Führer müssen progressiv genug sein, um das Land auf einen internationalistischen, antiimperialistischen und pro-westlichen Kurs zu führen. Natürlich gibt es keine Garantie dafür, dass dieser Kurs auch eingehalten würde, aber dafür kann man arbeiten. Und genau hier liegt der Schlüssel: Statt uns zu fragen, wann das Regime Putin zu Ende gehen wird, sollten wir uns vielmehr fragen, wie das geschehen wird“.

Das Gespräch mit Ilia Ponomarev führte Olivier Védrine, Professor (h.c.) und Chefredakteur des „Russian Monitor“ / Text: Christophe Nonnenmacher, Chefredakteur EuTalk / Übersetzung Kai Littmann, Chefredakteur eurojournalist.eu. Dieser Artikel erscheint im Rahmen unserer Zusammenarbeit zwischen Eurojournalist(e), EuTalk und The Russian Monitor und ist zuerst auf Französisch auf EuTalk und auf Russisch auf The Russian Monitor erschienen.

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