Faule Zeiten: Üben für die Zukunft

Es ist was faul im Deutschlandfunk. Nicht, dass sich nun seine Sprecher beim Mitsprechen des Gendersternchen jedes Mal ihren Kehlkopf verrenken – das ist nur krampfig. Nein, am Nikolaustag wird’s richtig faul, wenn es wieder heißt: „Faulheit – Todsünde oder Tugend?“

Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst der Faulheit: Foto: Zeichnung MM

(Michael Magercord) – Da sitzen wir nun schon wieder eine Weile fest, und ach: könnten wir bloß faul sein. Aber sobald man sollte, will es nicht so recht klappen, ungezwungen nichts zu tun. Dabei geht es doch nur um ein bisschen Frieden gegenüber sich selbst: Faulheit ist der Pazifismus in der Ersten Person Singular – und ist es nicht dieser gelebte Pazifismus, der erst jenen im Plural möglich machen würde…

Dieses Mal muss es klappen! Es muss einfach gelingen, wenn es noch was werden soll mit der Klimarettung und dem Umbau der Wirtschaft. Wenn wir nach Corona und der erzwungenen Ruhephase wieder aus unseren heimischen Bunkern krabbeln und erstmals wieder ins gleißende Tageslicht blinzeln, muss es heißen: Weniger machen und tun, rackern und schaffen, bauen und betonieren ist das neue Mehr – das ist ja wohl sonnenklar, oder?

Na ja, vielleicht doch nicht. Aber trotzdem könnte es sich lohnen, sich einmal dem Gedanken auszusetzen, dass trotz aller staatlichen Programme zur Rettung der vorherigen Strukturen nichts mehr genauso wird wie zuvor; und es nicht einmal wünschenswert ist, dass alles wieder so würde, wie es war. Also warum also nicht versuchen, diese Möglichkeit, es anders zu machen, einmal durchzuspielen: Faulheit ist in dieser Vision keine Sünde mehr, sondern eine Tugend.

Echte Tugendbolzen wissen nur zu gut, dass es nicht schwer ist einer zu werden, aber einer zu bleiben. Das hängt natürlich davon ab, wie sich das geistige Umfeld gestaltet, in dem er agiert. Einfach so der Überertüchtigung ein Ende zu setzen, sich selbst und damit auch andere nicht mehr nach ihrer ach so tollen Leistung zu beurteilen, fällt uns schwer. Man muss es zugeben: Wir modernen Menschen sind noch nicht so weit. Wir haben die Vertreibung aus dem Paradies noch nicht verkraftet, rackern uns noch immer an seiner irdischen Nachbildung ab, obwohl es doch eigentlich schon da ist, denn haben wir nicht alles, was wir brauchen? Und meist sogar doppelt und dreifach? Würde das nicht für alle zumindest einfach ausreichen?

Aber wie käme man dahin, diese Erkenntnis auch in eine gesellschaftliche Realität zu wandeln? Und siehe, nun hilft die Vision: Denn es gibt den Weg, den man beschreiten kann, ohne das Ziel schon kennen zu müssen. Faulheit wird zur Tugend erklärt und ein jeder ist Pazifist seiner selbst, dann wird es nicht mehr lange dauern, und die Institutionen werden sich wandeln müssen. Nicht Leistung wird ihre Richtschnur, sondern das bloße Menschsein.

Man stelle sich mal vor, es wäre schon jetzt so weit! Man hätte in dieser Situation die vielen Milliarden von Hilfsgeldern nicht in überkommene Strukturen versenkt, von Lufthansa bis Autoindustrie und sie damit letztlich nur Börsianern zum Fraß vorgeworfen, sondern mit einem einfachen Trick diese unglückselige und zerstörerische Symbiose zwischen Parlamentarismus und Finanzkapital endlich aufgelöst, um beides zu retten: die Demokratie und das Klima. Wie? Indem man jeden Menschen wieder ernst genommen hätte – und zwar jeden einzelnen.

Ach wie schön: das ganze Geld hätte man in die Menschen gesteckt, und zwar so, dass jeder Staatsbürger seinem Staat gleichviel Wert gewesen wäre. Eine soziale Haltelinie nach unten wäre für alle gezogen, und zwar so, dass sie auskömmlich ist. Und sie hätte für alle gleich gegolten und wäre auf Dauer ausgelegt. Niemand hätte sich sorgen müssen, seine Wohnung zu verlieren oder über kurz oder lang an der Tafel zu landen. Das wäre es dann auch gewesen, mehr gibt es nicht, aber es gilt für alle gleich, ob Lufthansapilot, Mindestlöhner oder Berufssolist, und unabhängig davon, was jemand zuvor gemacht hätten oder auch nicht.

Und nun fragen alle: Und der Rest? Die Strukturen? Egal, die Karten wären neu gemischt und jeder einzelne kann nun sehen, was er mit dieser neuen Freiheit anfängt. Und wer weiß, vielleicht wäre ja auch bei dem ein oder anderen die Erkenntnis gewachsen, auch ohne die ganze Ertüchtigung schon froh genug zu sein, nämlich frei wie ein Vogel und faul wie ein Mensch!

So ist es nicht gekommen, das Geld wird von den bestehenden Institutionen nach dem ihnen vertrauten Prinzip verteilt: Wer hat, dem wird gegeben. Alles andere wäre nur möglich gewesen, wenn das geistige Umfeld schon bereitet gewesen wäre, wenn der Mensch schon Pazifist in Ersten Person Singular wäre und die Faulheit eine allgemeine Tugend. Aber schön ist sie trotzdem diese Vision, oder? Und was tun, wenn sie schon lange in dieser Ersten Person Singular rumort? Na klar: Wer Visionen hat, der konsultiert am besten einen…: Historiker!

André Rauch, emeritierter Professor der Soziologie und Philosophie an der Universität Straßburg, hat in seiner „Kulturgeschichte der Faulheit“ den langen Weg von der christlichen Todsünde über das während der Industrialisierung proklamierte „Recht auf Faulheit“ bis zur Entstehung der Freizeit nachvollzogen. Der Umgang mit der Faulheit berührt die Kernfrage der modernen Gesellschaft: Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Freiheit und Individuum? „Wenn mich jemand als faul bezeichnet“, sagt André Rauch, „denke ich daran, welchen Vorteil er für sich aus mir herausholen will, was er möglichst billig von mir erledigt haben möchte oder welches Risiko ich für ihn eingehen soll.“

Und was sagte der so freie Professor aus Straßburg nun dem Visionär? Das kann man schon morgen erfahren, und zwar in Deutschlandfunk um 9.30 Uhr in der Sendereihe „Essay und Diskurs“. Und übrigens: Diese Sendung ist eine Wiederholung aus dem Jahr 2015 und stammt damit aus jenen fernen Zeiten, als in der gesprochenen Dritten Person Plural noch alle Menschen gleich waren und Unterschiedsmerkmale nicht erst sprachverrenkend wieder hervorgehoben wurden – und außerdem: „Faulpelze“ sind wir ja sowieso alle, und zwar in der Ersten Person Singular!

Faulheit – Todsünde oder Tugend?
Ein Gesprächs-Essay mit André Rauch
Essay und Diskurs – Deutschlandfunk

Sonntag, 6. Dezember, 9.30 Uhr

Und für Langschläfer und andere Aufgeweckte danach in der Mediathek unter DIESEM LINK!

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