Fingerzeig und Augenzwinkern

Deutscher Theaterkrieg in Straßburg: Nach dem deutschen Regietheater „Je suis Fassbinder“ kommt das klassische deutsche Theater mit Tschechows „Die Möwe“ von Thomas Ostermeier auf die Bühne des Nationaltheaters TNS.

Sparsame Bühnengestaltung, um den Theaterbesucher nicht vom Wesentlichen abzulenken. Foto: Arno Declair

(Von Michael Magercord) – Kunst über Künstler für Künstler – ob man dafür ein Interesse unter Nicht-Künstlern wecken kann? Kann man. Abstruse Kunstwerke, die niemandem mehr etwas sagen, außer seinesgleichen, werden nach wie vor goutiert und subventionieret, und ebenso sind Künstlerromane oder Filmbiografien von Kulturschaffenden beim lesenden und zuschauenden Volk immer noch beliebt. Scheinbar zieht diese Spezies Mensch schon immer und immer noch viele Menschen in ihren Bann. Warum? Weil doch irgendwie jeder ein Künstler sein will? Oder weil jeder ein Künstler ist, wie Joseph Beuys, der Fettecken zum Kunstwerk erklärte, einst kundtat?

Oder einfach, weil man sich das Künstlerleben so wunderbar unbeschwert und fern vom Alltagsnerv vorstellt? Aber ach, da liegen die Alltagsflüchter vollkommen falsch. Das hat jedenfalls schon Anton Tschechow vor 120 Jahren in seinem Theaterstück „Die Möwe“ über Schauspieler und Autoren klargemacht. Künstler leiden nämlich gleichsam am Misserfolg, der sie zermürbt, wie am Erfolg, der sie nach einer Weile nur noch langweilt. Und natürlich auch aneinander: am Neid untereinander; der Erfolglose neidet den Zuspruch für den Erfolgreichen, der Erfolgreiche die Unverfälschtheit des Erfolglosen. Eine kalte Welt, die Welt der Künstler.

Entsprechend eng und kahl ist das Bühnenbild bei der neusten Inszenierung des deutschen Regisseurs Thomas Ostermeiers auf der Bühne des TNS in Straßburg. Ein Bühnenraum als grauer Kasten, an dessen Rand auch die Schauspieler, die gerade nichts darstellen, verbleiben müssen. Kein Entrinnen gibt es aus dem selbstgewählten Künstlerkäfig. Kunst verbleibt in der Kunst, das Theater im Theater – und Theaterkritik erfolgt nun ebenfalls im Theater.

Denn mit Theaterkritik ging es los: Alles, was so heutzutage auf die Theaterbühne kommt, wird von dem Schauspieler, der später die Hauptrolle übernehmen wird, vor einem Mikrofon höchstselbst als öd und abgedroschen persifliert: Sich nämlich vor ein Mikro zu stellen und hinein zuflüstern; auf Videoleinwänden das Schauspiel live und ohne Zeitverzug zweizudimensionalisieren; und natürlich durch die obszöne Zurschaustellung des männlichen Gemächts zu provozieren, was dieser Schauspieler durch einen kreiselnden Finger auf Beckenhöhe andeutete – und ach, war dies alles nicht genau das, was in diesem Theater während der Inszenierung von Falk Richter geschah, die in den drei Wochen zuvor dort zu sehen war? Eine Persiflage auf den Regiekollegen aus Deutschland also?

Zunächst spult sich das Psychodrama zwischen dem gegen die üblichen Kunstformen rebellierenden Möchtegern-Autor, seiner Schauspieler-Mutter, der schauspielernden Freundin und dem gemütlichen Bestseller-Literaten ab, das unerbittlich im Selbstmord des letztlich doch noch erfolgreich gewordenen Jungdramatikers aus unerwiderter Liebe endet. Ein Künstlerkrieg um Form und Inhalt, eine Auseinandersetzung, die ungebrochen weitergeht. Heute nennt es sich Regietheater, das von Deutschland ausgehend die üblichen Formen infrage stellt. Lange war diese Form des Theaters nicht exportierbar, doch nun scheint es den Rhein westwärts endgültig überschritten zu haben, wie der Erfolg von „Je suis Fassbinder“ von Falk Richter in Straßburg zu beweisen scheint.

Thomas Ostermeier hingegen gilt als Vertreter der reinen Schule, was diese klare Inszenierung einmal mehr zeigt. Inhalt muss die Form bestimmen, nicht umgekehrt, sagt der auch in Frankreich vielbeschäftigte Theatermann. Und wenn alles nur noch Form ohne Inhalt ist? Provokation ohne noch zu provozieren? Oder anders gesagt: Welcher auch nur mäßig regelmäßiger Theatergänger hat nicht schon mindestens dreimal den sogeannnten Helikopter, der seit neusten auch als Pimmelpropeller bezeichnet wird, bestaunen dürfen? Zugegeben, der wurde bei Falk Richter noch einmal besonders eindrucksvoll dargeboten, und Ostermeier erlaubt sich den kleinen Fingerzeig auf das Werk seines Kollegen, nennt es ein „Augenzwinkern“ und trägt damit den doch so deutschen Theaterkrieg nun nach Frankreich. Uns hingegen mag dies alles – die Werke und der Kampf um Form und Inhalt in der modernen Theaterwelt – zur Erkenntnis gereichen, dass die Aussage von Joseph Beuys eine Abwandlung erfahren hat. Nein, nicht jeder, der Fettecken produziert, ist gleich ein Künstler, aber in unserer Zeit der inhaltlosen und somit totalen Inszenierung muss es nun heißen: „Jeder Mensch ist Kunst“.

Noch bis zum 9. April kann man das Künstlerleben auf der Straßburger Bühne in einer ausreichend einfallsreichen, zuweilen auch amüsanten, allerdings ab und an etwas langatmigen Inszenierung erleben und damit erkennen, dass das Dasein von Künstlern ebenso banal ist wie das unsrige – und am Donnerstag, den 7. April auch mithilfe deutscher Übertitel.

„La mouette“ – „Die Möwe“ von Anton Tschechow
Regie: Thomas Ostermeier
Mit u.a. Valérie Dréville, Mélodie Richard, Jean-Pierre Gos und Sébastien Pouderoux
Noch bis 9. April 2016 im Theatre National Straßburg
11. bis 13. Mai 2016 in La Filature Mulhouse

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