Frankreich brodelt wie ein Dampfkochtopf

Sie haben es sich selbst zuzuschreiben – die jämmerlichste Politik seit Jahrzehnten und das europäische Desaster kündigen in Frankreich eine Revolution an. Die so oder so ausgehen kann.

Frankreich steht gerade kurz vor den Barrikaden - und es ist offen, wie das ausgeht. Foto: Nuit debout Bordeaux / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Es ist erstaunlich, wie wenig wir in Deutschland davon mitbekommen, wie in Frankreich gerade die Stimmung kippt. Da ist zum einen die Bewegung „Nuit debout“, die ihren Anfang mit den Protesten gegen das geplante Arbeitsgesetz („El-Khomri-Gesetz“) nahm, mit dem die sozialistische Regierung im Handstreich eine Reihe sozialer Errungenschaften der letzten Jahrzehnte einkassieren will, doch die sich mittlerweile zu einer Bewegung der Ablehnung gegen ein ganzes Politiksystem ausgeweitet hat, das von den Franzosen völlig zurecht als antiquiert, ineffizient, ungerecht und unhaltbar betrachtet wird. Doch das ist nicht alles – die Ablehnung des politischen Status Quo in Frankreich hat inzwischen auch die bürgerlichen Gesellschaftsschichten erreicht. Und die französische Politik erweist sich als unfähig, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

Es muss für die Franzosen wie ein Schlag ins Gesicht gewirkt haben, als sich Präsident François Hollande letzte Woche vor die Kameras des französischen Fernsehens stellte und versuchte, seine katastrophale Bilanz schön zu reden – alleine seine Behauptung, „den Franzosen ginge es heute besser als 2012“, dem Zeitpunkt seines Amtsantritts war, gelinde gesagt, eine Unverschämtheit. Doch Hollande ist nicht alleine das Problem, das Problem sitzt tiefer, nämlich in der Organisation der V. Französischen Republik, die mit ihrem festgezurrten „Links-Rechts-Wechsel“ die verfassungsmäßige Lähmung einer demokratischen Dynamik ist. „Politische Macht“ wird in Frankreich immer noch mit einem der heutigen Zeit nicht mehr angemessenen Prunk und Pomp gefeiert, die politischen Seilschaften in den Parteiapparaten sind auf das Engste mit den großen finanziellen und industriellen Interessen des Landes verbandelt, und die Leidtragenden dieser politischen Lähmung, die französischen Bürgerinnen und Bürger haben die Nase gestrichen voll. Noch nie in der Geschichte dieser V. Französischen Republik war die Ablehnung für eine amtierende Regierung grösser und diese Ablehnung treibt nun die Menschen auf die Straße.

Doch die politische Unruhe drückt sich nicht nur auf der Straße aus, sondern auch in den politischen Parteien selbst. Fast jeden Tag verlässt inzwischen ein Spitzenfunktionär der Parteien seine politische Heimat, wie Ratten das sinkende Schiff, um neue „Bewegungen“, Parteien und Initiativen ins Leben zu rufen, doch ist dies eher der verzweifelte Versuch, seine eigene politische Karriere zu retten. So gründete Wirtschaftsminister Emmanuel Macron seine Bewegung „En marche“ („Auf geht’s!“), die er sicherheitshalber als „nicht links, nicht rechts“ deklarierte und die letztlich auch nur ein taktisches Manöver ist. Ebenso wie die neue Initiative des Generalsekretärs der Sozialisten Jean-Christophe Cambadélis, den es ebenfalls auf Distanz zu seiner eigenen Partei treibt und alle zusammen schaffen sie nur eines – die gesamte Politiklandschaft noch ein Stückchen unglaubwürdiger zu machen, als sie das ohnehin schon ist.

Bei den Konservativen sieht es keinen Deut besser aus. Gleich 11 Kandidaten haben sich bisher für die Vorwahlen zur Präsidentschaftswahl 2017 gemeldet, ein buntes Sammelsurium von Politik-Dinosauriern, die alle ungefähr das gleiche versprechen – nämlich dass alles besser wird. Da aber die meisten dieser Kandidaten schon wiederholt die Möglichkeit hatten, etwas Positives für Frankreich zu bewirken, wie der frühere Präsident Sarkozy oder die ehemaligen Ministerpräsidenten Juppé und Fillon, glaubt ihnen auch keiner mehr, dass sie in irgendeiner Form für eine dringend benötigte politische Erneuerung des Landes stünden.

Da aber das Wahlsystem in Frankreich so ausgelegt ist, dass kleine oder neue Parteien nicht die Spur einer Chance haben, sich im politischen Frankreich entwickeln zu können, verlagern sich die Proteste auf die einzige Ebene, auf der sie stattfinden können, auf die Straße. Da nützen auch die verzweifelten Versuche des politischen Establishments, diese Proteste zu diskreditieren, nicht mehr viel, im Gegenteil.

Der „Französische Frühling 2016“ birgt allerdings zahlreiche Gefahren. Zum einen ist es schwierig für die neuen Protestbewegungen, in strukturierter Form in den politischen Diskurs eingreifen zu können, da sich das System hermetisch gegen Neuerungen abgeschottet hat, was dazu führt, dass der Protest auf der Straße bleiben muss. Und hier mischen sich inzwischen auch Kräfte unter die friedlichen „Nuit debout“-Demonstranten, die auf Randale und eine militante Konfrontation mit dem Staat setzen, die dieser mehr als bereitwillig annimmt, denn Bilder von Straßenschlachten sind genau das, was der Staat braucht, um seinen Bürgern zu vermitteln, bei „Nuit debout“ würde es sich mehrheitlich um „Krawallmacher“ handeln, was definitiv nicht der Fall ist. „Nuit debout“ hat dabei tatsächlich Schwierigkeiten, sich diese Handvoll militanter und sogar antisemitischer Personen vom Hals zu halten, denn als offenes Bürgerforum fällt es „Nuit debout“ schwer, sich von diesen Randgruppen zu distanzieren.

Die andere große Gefahr lauert gerade wie eine große Würgeschlange im Versteck – während ganz Frankreich hoch emotional die Grundwerte der Republik hinterfragt, der politische Diskurs im Land Hochkonjunktur hat, hält sich der rechtsextreme Front National auffallend zurück. Die Formation von Marine Le Pen, die Europa, Ausländer, Jugendliche und eigentlich so ziemlich alles hasst, was nicht reinrassig französisch ist, hält sich bedeckt, kommentiert kaum das aktuelle Geschehen – und steigt unaufhaltsam in den Umfragen. Als einzige „Alternative“ zu „LinksRechts“ muss der Front National auch gar nichts sagen, je länger er schweigt, desto mehr Wähler laufen ihm zu. Verschiedene Umfragen sehen nun erstmals Marine Le Pen als Wahlsiegerin eines zweiten Wahlgangs 2017, nicht etwa, weil die Franzosen plötzlich faschistoide Neigungen entdecken, sondern weil sie es einfach satt haben, ständig für diesen „LinksRechts“-Sumpf zu stimmen.

Die neuen Bewegungen, in denen sich der Protest gegen diese nicht mehr funktionierende französische Gesellschaft ausdrückt, haben nur wenig Zeit, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, bevor das Land den Rechtsextremen in die Hände fällt. Die Zukunft des Landes und der Start in die unausweichlich auf die Franzosen zukommende VI. Republik wird davon abhängen, ob sich diese neuen Bewegungen auf einen strukturierten Ansatz hinein in die Politik einigen können. Da viele der besten Köpfe des Landes gerade auf die eine oder andere Art in diese neuen Gegenbewegungen einsteigen, sind Hoffnungen erlaubt. Wir erleben gerade die Götterdämmerung eines überholten politischen Systems, Ende offen.

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