Frankreich: die große Woche des Verfassungsrats
Diese Woche werden in Frankreich die Wellen hoch schlagen – am Freitag wird der Verfassungsrat seine Entscheidung bekanntgeben, ob das per §49.3 durchgeboxte Gesetz zur Rentenreform in Kraft treten kann oder nicht.
(KL) – Rentenreform. §49.3. „Blockierte Abstimmung“ im Senat. Verfassungsrat. Das alles ist für Nicht-Franzosen nur schwer verständlich. Am Freitag dieser Woche wird der französische Verfassungsrat seine Entscheidung bekanntgeben, ob das per §49.3 am Parlament vorbei beschlossene Gesetz über die Rentenreform so in Kraft treten kann, vollständig oder teilweise geändert werden muss oder aber einer Volksabstimmung (RIP – Référendum d’Initiative Partagée) unterworfen wird. 49.3? Verfassungsrat? Aber wer ist dieser „Verfassungsrat“, was ist der §49.3?
Der französische Verfassungsrat wurde am 4. Oktober 1958 mit der Verfassung der V. Französischen Republik ins Leben gerufen und er ist faktisch das oberste Gericht Frankreichs, nur, dass in diesem Verfassungsrat nicht etwa Richter, sondern neun frühere hohe Politiker oder Staatsbeamte sitzen, von denen jeweils drei vom Präsidenten, vom Präsidenten der Nationalversammlung und vom Präsidenten des Senats für eine Amtszeit von 9 Jahren berufen werden. Zum Verfassungsrat gehören kraft Amtes auch alle früheren Präsidenten der Republik. Momentan sitzt der frühere Premier- und Außenminister Laurent Fabius diesem Gremium oder obersten Verfassungsgericht vor und am Freitag nun kommt die Entscheidung des Verfassungsrats zur Rentenreform, die seit drei Monaten für riesige Unruhen in Frankreich sorgt, da bis zu 90 % der Arbeitnehmer diese Reform ablehnen. Die Entscheidung des Verfassungsrats wird deshalb so wichtig werden, weil sie endgültig ist. Denn der Verfassungsrat hat das letzte Wort, und es gibt keine Instanz, die eine Entscheidung des Verfassungsrats in Frage stellen könnte. Mit der Entscheidung am Freitag steht oder fällt diese Rentenreform. Aber welche Entscheidungen kann der Verfassungsrat überhaupt treffen?
Verfassungsexperten sehen drei Möglichkeiten, deren Spektrum von der Befriedung der Gesellschaft über einen Kompromiss bis hin zu einer herben Niederlage für Emmanuel Macron und seiner Regierung reicht.
Die erste Möglichkeit wäre, dass der Verfassungsrat eine Volksabstimmung einleitet, ein so genanntes RIP („Référendum d’Initiative Partagée“), was ein sehr starkes Zeichen in Richtung der Franzosen wäre, denn immerhin lautet der in der Verfassung festgeschriebene politische Grundsatz der V. Republik „Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk“. Und davon kann momentan ja wohl kaum die Rede in Frankreich sein. Klar wäre natürlich im Falle einer Volksabstimmung, dass Macrons Rentenreform mit Pauken und Trompeten durchfallen würde. Doch die Organisation einer Volksabsstimmung könnte den Franzosen das Gefühl zurückgeben, dass sie tatsächlich in einer Demokratie leben, in der das Volk der oberste Souverän ist.
Die zweite Möglichkeit wäre, und diese wird von vielen Experten als die wahrscheinlichste betrachtet, dass der Verfassungsrat bestimmte Regelungen aus dem Gesetzestext streicht, wobei niemand damit rechnet, dass die Erhöhung des Renteneinstiegsalters von 62 auf 64 Jahre aufgehoben wird. Diese Möglichkeit, so die Gewerkschaftsspitzen, würde als nicht ausreichend angesehen. Sprich: Die Proteste und Aktionen würden weitergehen und sich sicherlich verschärfen.
Die dritte Möglichkeit bestünde darin, dass der Verfassungsrat den Gesetzestext schlicht und ergreifend ablehnt („censure“). Diese Option wird als die am wenigsten wahrscheinliche eingeschätzt, denn das wäre eine so heftige Ohrfeige für den Präsidenten und seine Regierung, dass die weitere Amtszeit bis 2027 enorm belastet wäre.
Der Verfassungsrat steht allerdings vor einem juristischen, demokratischen und politischen Dilemma. Denn juristisch war der Einsatz des § 49.3 völlig zulässig, wie er klar besagt: „Der Premierminister kann nach Beratung des Ministerrates vor der Nationalversammlung die politische Verantwortung der Regierung für die Abstimmung über einen Haushaltsgesetzentwurf oder einen Gesetzentwurf zur Finanzierung der Sozialversicherung übernehmen.“ Was soviel bedeutet, dass der jeweilige Gesetzentwurf ohne Abstimmung im Parlament als angenommen gilt und das ist ja genau das, was bei dieser Rentenreform passiert ist. Die Verfassung sagt aber eben deutlich, dass dieser Paragraph explizit für Fälle wie die Verlängerung der Beitragsjahre in die Sozialversicherung gedacht ist.
Seit 1958 wurde dieser § 49.3 bereits 100mal von den verschiedenen Regierungen der Linken und der Rechten genutzt. Nur – in diesem Fall, wo es vereinfacht gesagt um die Verlängerung der Lebensarbeitszeit um 2 Jahre geht, wird das Vorgehen von einer großen Mehrheit der Franzosen als verfassungstechnisch erlaubt, aber als demokratisch absolut unzulässig betrachtet. Dass Millionen Franzosen die klar formulierte Sorgen haben, dass die französische Demokratie gefährdet sei, kann der Verfassungsrat kaum außer Acht lassen.
Und genau das führt zum politischen Dilemma, denn die 9 Mitglieder des Verfassungsrats stammen überwiegend aus der Politik, sind ehemalige Minister oder sehr hohe Staatsbeamte, haben eine klare parteipolitische Einfärbung und demenstsprechend auch politische Interessen oder Rücksichten zu nehmen. Zwar können die Mitglieder des Verfassungsrats nicht gekündigt werden, doch ist nur wenig wahrscheinlich, dass ein von Emmanuel Macron ernanntes Mitglied dieses Gremiums ihm seinen Gesetzestext um die Ohren schlägt.
Auf jeden Fall ruhen nun die Hoffnungen von Millionen Franzosen auf dem Verfassungsrat und dessen Entscheidung am Freitag. Da der nächste Aktions-, Streik- und Demonstrationstag am Donnerstag stattfindet, also nur einen Tag vorher, muss damit gerechnet werden, dass die Mobilisierung sehr stark sein wird, handelt es sich doch um quasi die letzte Chance, diesen Sozialkonflikt institutionell zu lösen – danach würden sich die Proteste sicherlich auf andere, radikalere Ebenen verlagern. Am Ende der Woche werden wir mehr wissen.
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