Die Spannungen zwischen Frankreich und Algerien verschärfen sich
Die Spannungen zwischen Algerien und Frankreich steigen immer weiter. Der erste, der die Zeche zahlt, ist der Schriftsteller Boualem Sansal. Wie soll das denn weitergehen?

(KL) – Frankreich kann momentan gar nicht anders, als seine Geschichte mit der ehemaligen Kolonie Algerien aufzuarbeiten. Das hätte man sich am liebsten gespart, doch dann verglich der Journalist Jean-Michel Apathie auf RTL die französische Kolonialeroberung in Algerien mit dem SS-Massaker in Ordaour-sur-Glane. Ein Aufschrei ging durch Frankreich, Apathie wurde vorsorglich das Mikrofon entzogen, doch dann mussten sich die Franzosen plötzlich darüber klar werden, was für Verbrechen auch Frankreich während dieser Kolonialzeit verübte.
Während des „Befreiungskriegs“, der von 1954 bis 1962 dauert, kamen nach französischen Angaben 500.000 Menschen ums Leben, nach algerischen Angaben 1,5 Millionen. In der Nachbetrachtung kommt es nicht mehr auf die exakte Zahl an, sondern darauf, dass sich auch französische Soldaten in Algerien nicht besser benahmen als andere Nationen bei deren Eroberungskriegen. Da man aber in Frankreich grundsätzlich historische Themen vermeidet, bei denen das Land nicht gut aussieht, entdecken viele Franzosen die vom eigenen Land begangenen Gräuel mit rund 65 Jahren Verspätung. Und zwar genau zu dem Zeitpunkt, zu dem die Beziehungen zwischen beiden Ländern ohnehin schon unglaublich abgespannt sind.
Der ultrarechte Innenminister Bruno Retailleau will nun „durchgreifen“, hat sogar sein eigenes Amt davpon abhängig gemacht, dass es ihm gelingt, Algerien zu „disziplinieren“. Doch danach sieht es gerade nicht aus. Einer der Knackpunkte aus französischer Sicht ist, dass sich Algerien weigert, algerische Straftäter aus Frankreich zurückzunehmen, so dass Abschiebungen in das Land nicht möglich sind. Das betrifft auch zahlreiche algerische Straftäter, die eigentlich schon längst hätten ausreisen müssen, aber weiterhin in Frankreich Straftaten begehen. Auf eine Liste solcher Straftäter, die Frankreich gerne nach Algerien zurückschicken würde, hat Alger nicht einmal reagiert.
Stattdessen erinnert man in Alger daran, dass Frankreich für seine Immobilien seiner Vertretungen in Algerien viel zu wenig Miete bezahlt, dass Frankreich im Streit um die Westsahara eindeutig Stellung für Marokko und damit gegen Algerien bezogen hat, was einen Bruch mit der bisherigen Politik Frankreichs darstellt, die auf der UNO-Linie lag und besagte, dass die Westsahara einen „nicht geklärten Status“ hat. Marokko kontrolliert rund 80 % der Westsahara, auf die auch von der von Algerien unterstützte „Front Polisario“ eingefordert wird.
Inzwischen drohen sich beide Seiten mit weiteren Maßnahmen, Frankreich sagt, dass „es keinen Krieg“ mit Algerien will, doch der Falke Retailleau will nun in diesem Dossier glänzen, da der Mann Ambitionen 2027 auf das Präsidentenamt hat. Hierzu nützt es momentan in Frankreich, sich als superautoritär darzustellen, denn Frankreich, das sich mittlerweile im Krieg wähnt, verspürt ein massives Bedürfnis nach einem „starken Mann“.
Derjenige, der das alles gerade persönlich ausbaden muss, ist der franko-algerische Schriftsteller Boualem Sansal, in dessen Schauprozess die Staatsanwaltschaft gestern 10 Jahre Haft forderte. Für den 75jährigen Schriftsteller, der unter Krebs leidet und unter fadenscheinigen Anschuldigungen verhaftet wurde, käme dies fast schon einem Todesurteil gleich.
Man fragt sich, mit wem sich Frankreich gerade noch alles anlegen will. Macron will Truppen in die Ukraine schicken, will Russland in die Knie zwingen, Algerien disziplinieren und dabei auch verhindern, dass sich das Land mit den dunklen Seiten seiner Geschichte auseinandersetzt. Doch die Zukunft kann Frankreich nicht dadurch prägen, dass es sich ehrend an Napoleon und Marschall Pétain erinnert. Es wird Zeit, dass der westliche Nachbar auch im 21. Jahrhundert ankommt.
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