Frankreich stolpert ins Chaos
Der 16. März 2023 wird in den Annalen Frankreichs bleiben. Nach hektischem Hin und Her zwischen Senat, Nationalversammlung und Präsidentenpalast hebelt die Regierung einfach die Demokratie aus.

(KL) – Der Tag hatte schon schlecht für Emmanuel Macron und seine Sprecherin, pardon, Regierungschefin Elisabeth Borne begonnen. Im Senat fiel das Votum für Macrons Rentenreform so knapp für die Reform aus, dass hektisch einberufene Sitzungen im Präsidentenpalast folgten, wo der Präsident am Ende entschied, sein Gesetzesvorhaben keiner demokratischen Abstimmung in der Nationalversammlung zu unterwerfen, sondern es mit dem Paragraphen 49.3 einfach durchzuboxen. Zu groß war für ihn die Gefahr, eine Niederlage in der Nationalversammlung zu kassieren. Doch das höchst undemokratische Vorgehen eines Präsidenten, der sich nicht einmal mehr traut, seinen Landsleuten zu begegnen und einer Regierungschefin, die offenbar unter massivem Realitätsverlust leidet (am Vorabend hatte sie noch erklärt, dass diese Reform „auf Wunsch der Franzosen“ zustande gekommen sei, obwohl 93 % der arbeitenden Bevölkerung diese Reform ablehnen), wird die aktuelle Protestwelle nur weiter anheizen. Denn jetzt geht es für die Demonstranten und die Gewerkschaften gar nicht mehr in erster Linie um diese Rentenreform, sondern darum, die französische Demokratie zu retten, die sie ausgerechnet von ihrem Präsidenten und seiner Regierung gefährdet sehen.
Was für ein Spektakel in Paris! Ein Präsident, der sich ängstlich in seinem Palast versteckt, das Umgehen des Parlaments, ein Schlag ins Gesicht der französischen Demokratie, eine arrogante Geringschätzung seiner Landsleute und der Gewerkschaften – dieser Präsident und seine Regierung, so der spontane Kommentar des PCF-Chefs Fabien Roussel, „sind nicht würdig, an der Spitze Frankreichs zu stehen“. Dieses Gefühl dürfte heute eine große Mehrheit der Franzosen teilen.
Es war kurz nach 15 Uhr, als Elisabeth Borne ans Rednerpult der Nationalversammlung treten musste, um den gewählten Vertretern des Volks die Nachricht zu überbringen, dass Präsident Macron und sie selbst keinen Wert mehr auf die Abstimmung im Parlament legen und das Gesetz zur Rentenreform lieber ohne Abstimmung in Kraft setzen wollen. Dabei war Borne kaum zu verstehen, da die linke Opposition in ihren Sitzreihen stand und während der kurzen Ansprache der Regierungschefin die Marseillaise sang.
Der nächste Höhepunkt dieser undemokratischen Farce wird ein Mißtrauensvotum gegen Regierungschefin Elisabeth Borne werden, das weder sie, noch ihr Präsident, mit Verfassungs-Tricksereien verhindern können. Sollte ihr das Parlament das Mißtrauen aussprechen, würde damit auch die Rentenreform kippen, doch ist ein erfolgreiches Mißtrauensvotum eher unwahrscheinlich, zumal der Chef der LR (Les Républicains) Eric Ciotti bereits angekündigt hat, er wolle seine Fraktion darauf einstimmen, „dem Chaos kein Chaos hinzuzufügen”, indem die Regierung gestürzt würde. Aber egal, wie diese Abstimmung ausgeht, so ist diese Regierung bereits jetzt am Ende – ihr Vorgehen wird bis 2027, dem Zeitpunkt der nächsten Wahlen, nicht vergessen werden.
Dafür werden bereits die nächsten Demonstrationen deutlich schärfer ablaufen und die nun kommenden Auseinandersetzungen gehen einzig und allein auf die Kappe eines Präsidenten, von dem nicht nur die Opposition glaubt, dass der Mann schlicht nicht über die Qualitäten verfügt, um die Politik Frankreichs zu leiten. Wie diese Protestwelle enden wird, steht in den Sternen, doch ist bereits heute klar, dass diese Regierung bis zu ihrer Abwahl oder ihrem Abdanken keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen wird – das Vertrauen der Franzosen in diesen Präsidenten und diese Regierung ist endgültig zerstört.
Die „Macronie“ hat ausgedient und dabei deutlich gemacht, dass sie nicht unbedingt die Interessen der Franzosen vertritt, sondern ihre neoliberale Ideologie verfolgt. Schwierig wird es aber für die Abgeordneten der „Macronie“ werden, denn in ihren Wahlkreisen leben eben auch arbeitende Menschen, die zu 93 % diese Reform ablehnen und denen die Abgeordneten kaum werden erklären können, was ihre Chefs in Paris veranstalten. Für viele der Macron-Abgeordneten ist seit gestern klar, dass sie sich jetzt schon Gedanken machen müssen, was sie nach 2027 machen wollen, denn ins Parlament werden sie nicht wieder gewählt werden.
Doch was ist eine parlamentarische Demokratie wert, wenn diejenigen, die an der Macht sind, freihändig entscheiden, ob sie die gewählten Vertreter des Volks zu so wichtigen Fragen wie dem Lebensabend abstimmen lassen oder nicht? Das ist keine Demokratie mehr, sondern eine Autokratie, die in einem europäischen Land im Jahr 2023 nichts mehr zu suchen hat. Macron/Borne steuern das Land in eine Protestwelle, bei der die Demonstranten auf die Straße gehen werden, um ihr Land vor seiner Regierung zu schützen. Und das ist nichts, worauf Emmanuel Macron stolz sein kann.
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