Französische Verhältnisse

Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen gingen 44,5 % der Wahlberechtigten nicht wählen. Ist die Demokratie generell auf dem Rückzug?

"Wählen? Ich? Ach, wissen Sie, die machen ja ohnehin was sie wollen..." Foto: Milliped / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Seit Jahren beobachtet man in Europa einen starken Rückgang der Wahlbeteiligung bei praktisch allen Wahlen. So auch am Sonntag in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland der Republik, mit einer Bevölkerung, die derjenigen der Niederlande entspricht. Dass fast die Hälfte der Wahlberechtigten nicht wählen ging, wirft ein ganz schlechtes Licht auf den Zustand unserer Demokratie. Und plötzlich stellt man fest, dass die Nichtwähler auch in Deutschland das Niveau von Frankreich erreichen – wir stehen vor dem Niedergang der Demokratie.

In vielen Ländern der Welt würde man sich wünschen, dass man frei wählen könnte. Bei uns, wo diese Möglichkeit besteht, wenden sich immer mehr Menschen von der Politik ab und fühlen sich von den handelnden Personen nicht mehr repräsentiert. Diese Entwicklung ist gefährlich, denn sie öffnet dem „politischen Zufall“ Tür und Tor.

Dazu kommt das Problem der Legitimität. Wenn nur 55,5 % der Menschen wählen gehen und der Wahlsieger ein Drittel dieser Stimmen auf sich vereint, dann ist er faktisch nur von rund einem Sechstel der Wahlberechtigten gewählt worden und 5/6 der Wahlberechtigten haben nicht für den „Wahlsieger“ gestimmt.

Das Problem betrifft in allererster Linie die Parteien, die offenbar nicht in der Lage sind, sich den Realitäten des 21. Jahrhunderts anzupassen. Seilschaften, verkrustete Strukturen, langatmige Entscheidungsprozesse (man erinnere sich nur an die Kür der SPD-Parteichefs, die sich über sechs Monate hinzog…) – und am Ende setzen sich immer die alten Partei-Krokodile durch. Der Weg zu mehr Demokratie führt obligatorisch über eine Modernisierung der politischen Parteien, denn es ist nicht etwa Aufgabe der Gesellschaft, sich an die anachronistischen Strukturen der Parteien anzupassen, sondern es ist Aufgabe der Parteien, sich auf die Realitäten der modernen Welt einzustellen.

In Frankreich fordern immer mehr Menschen die Anerkennung des „leeren Stimmzettels“, mit dem Vorschlag, dass wenn die leeren Stimmzettel die Mehrheit darstellen, die Parteien gezwungen wären, neue Kandidaten zu präsentieren. Denn dann hätten die Wählerinnen und Wähler die Möglichkeit, alle Kandidaten und Kandidatinnen abzulehnen, was wiederum die Parteien zwingen würde, Kandidaturen nicht nach Seilschaften, sondern nach Erfolgsaussichten aufzustellen.

Ein anderer Ansatz ist das belgische System. In Belgien müssen die Menschen wählen gehen und wer das nicht tut, muss eine kleine Strafe zahlen, die etwa einem Strafzettel für Falschparken entspricht. In diesem System wird der Wählerschaft in Erinnerung gerufen, dass Wählen nicht nur ein hohes Bürgerrecht, sondern auch eine Pflicht ist.

Noch ein anderes System ist die Schweizer Graswurzel-Demokratie, in der die Wählerschaft alle paar Wochen aufgerufen ist, die wichtigsten gesellschaftlichen Fragen per „Votation“, also per Volksabstimmung zu entscheiden. Dieses System ist zwar kein Garant für „gute“ oder „richtige“ Entscheidungen, aber es ist grundlegend demokratisch und die Schweizer haben das berechtigte Gefühl, dass wichtige Fragen nicht über ihre Köpfe hinweg, sondern von ihnen selbst entschieden werden.

Die einzigen, die sich mit der aktuellen Entwicklung nicht so richtig auseinandersetzen, sind die politischen Parteien selbst. Dass diese gerade dabei sind, das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik zu erschüttern und zu untergraben, bekommen sie nicht mit. So lange sie sich weiter an die Macht durchmogeln können, werden sie nichts an diesem System ändern. Doch wenn fast die Hälfte der Wahlberechtigten nicht mehr wählen geht, sollten in den Parteizentralen eigentlich alle Alarmglocken klingeln. Aber das tun sie nicht.

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