Geh doch rüber – die Mauer, der Kanzler und ich

War das ihm jetzt wirklich angemessen? Dieses Gezerre um seine sterblichen Überreste? Straßburg und Speyer – nicht aber nach Berlin? Das ist den Rheinländern ja sowieso immer etwas suspekt, das ging ja Adenauer auch nicht anders. Vielleicht aber deutet dieser, sein letzter Gang vielmehr auf die Schwierigkeiten hin, die wir als seine Zeitgenossen haben, uns an Helmut Kohl ohne Zwiespalt zu erinnern – eine späte Auseinandersetzung mit dem Ewigkanzler.

Helmut Kohl, von Regenschirmen gegen alle äußeren Widrigkeiten geschützt, schreitet am 22. Dezember 1989 zur Öffnung des Brandenburger Tors. Foto: Michael Magercord CC-BY-SA 3.0

(Von Michael Magercord) – Helmut Kohl und ich. Einmal nur sind wir ein kleines Stück des Weges gemeinsam gegangen. In Berlin. Am 22. Dezember 1989. Vom Reichstagsgebäude zum Brandenburger Tor. Es lief allerdings nicht rund mit uns.

Gemeinsam waren wir zwar noch aus dem Südeingang des Reichstages getreten, zusammen mit einigen Ehrengästen – gut erinnere ich mich noch an Harald Juhnke – schritten wir hinaus in den regnerischen Adventsmorgen. Dann aber habe ich den Kanzler ziemlich schnell im regenbeschirmten Tross von Mitarbeitern, Sicherheitsleuten und Kamerateams schon wieder aus den Augen verloren.

Anlass war die Öffnung des Brandenburger Tores. Bereits sechs Wochen waren vergangen seit dem Mauerfall, drei Tage erst nach seiner Einheitsrede im entsprechend taumelnden Dresden, doch irgendwie schien dem Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland noch ein richtiger Maueröffnermoment zu fehlen. Denn am Tag der Tage, dem 9. November, weilte er in Polen. Einen Tag später stand er zwar mit Genscher, Momper und Brandt oben auf dem Balkon des Schöneberger Rathaus: Kundgebung zum Mauerfall, aber es lief damals nicht gut für ihn. Er wurde von den Westberlinern, die zwar ihren Mauerbau-Bürgermeister Willy Brandt beklatschten, nicht aber den Kanzler aus Bonn, mit Pfiffen bedacht. Gemeinsam immerhin wurden sie dann ausgebuht, als die da oben begannen, die Nationalhymne zu krächzen.

Die Zeit war in Westberlin noch nicht reif für Einheitsgejubel – und wurde es auch nicht mehr. Fürs Einheitsjubeln war der tiefe Westen und der tiefe Osten zuständig, nicht aber die alte Frontstadt und ihre westwärtigen Mauerinsassen. Denn es waren ja die Westberliner, die die Mauer umschloss, und die damit die wahren Ummauerten waren. Und es lebte sich in diesem Maueridyll nun einmal ganz anders als außerhalb der Mauer, ob nun direkt dahinter oder erst am anderen Ende der Transitautobahnen nach Richtung Westdeutschland.

In Westberlin herrschte nicht nur keine Wehrpflicht, dort zu leben war zudem auch noch so billig, dass es vielleicht in der Geschichte des modernen Kapitalismus der einzige Ort war, wo man sich seinen Lebensstil aussuchen konnte, ohne all zu viel Rücksicht auf seine ökonomische Machbarkeit nehmen zu müssen. Alles war aus sich heraus lebbar, vom brotlosen Künstler bis zum triebgesteuerten Karrieristen. Der Schutzwall, den die DDR-Oberen einst gegen die Verlockungen des Kapitalismus errichten ließen, machte es möglich – allerdings im Westen von Berlin.

Geh doch rüber – der alte Spruch, den man in Westdeutschland zu hören bekam, wenn einem dort etwas nicht passte, hatte in Westberlin schon lange vor dem Mauerfall seinen Sinn verloren. Denn wenn einem etwas als Alternative so gar nicht in Betracht kam, war es gerade das „Drüben“, was hinter der Mauer lag. Dieses unmittelbare Drüben war dem meisten – gelinde gesagt – fremd und unbekannt, und wenn man ehrlich zu sich war, schlicht und einfach egal. Ein weißer Fleck und definitiv nicht das Drüben, was man sich in seinen Träumen von Alternativen ausgemalt hätte.

Das Drüben von Westberlin war kein Ort, sondern eine Idee, dass noch was anderes möglich ist, als das Dasein in der industriellen Produktionsgesellschaft, egal ob die nun als Kapitalismus und Sozialismus daherkommt. Und es war etwas, das durchaus realistisch erschien, eine Verschiebung der individuellen Wünsche und dessen, was man allgemein für Wichtig erachtete, bahnte sich, es lag was in der Luft – und dahinein fiel die Mauer und ein neuer Wind begann zu blasen.

Klar, dass der plötzliche Zustrom von Menschen aus dem Ostteil der Stadt da erst einmal nur störte. Bürgermeister Momper hatte das noch am selbem Abend gespürt und bat im Lokalfernsehen seine Westberliner, es mit Fassung zu tragen, dann man von nun an enger zusammenrücken müsse. Und es stimmte: Aldi und Co. wurden zur No-go-area für jemanden, der seinen aktuellen Lebensinn nicht im Schlangestehen und dem Ausgeben von Begrüßungsgeld sah. Immerhin: wer etwas Sächseln konnte, durfte die paar Wochen auch mal ohne gültigen Fahrausweis U-Bahnfahren.

Das war aber nur ein schwacher Trost für den Verlust, der sich bald mit dem Verschwinden der Mauer einstellte. Denn es wurde langsam klar, dass mit dem sichtbaren Drüben auch das imaginierte Drüben verschwand. Der Sieg eines Systems wurde ausgerufen, es sollte nun kein anderes mehr geben neben ihm. Das Drüben war abhanden gekommen, jede denkbare Alternative auch. Und bis heute leben wir in diesem Zustand der Fantasielosigkeit, wenn es darum geht, unsere wirklichen Probleme zu erkennen und uns daran hindert, einen Weg zur Lösung einzuschlagen, der uns zunächst ein Neuland im Denken erschließen müsste.

Was hat das mit Helmut Kohl zu tun? Auf den ersten Blick nicht viel. Und doch war er es, der mit aller Gewalt daran arbeitete, das Drüben endgültig zum Verschwinden zu bringen. In ihm kristallisiert sich der Prozess, mit dem die Fantasielosigkeit über uns kam. Denn wenn wir bei aller historischen Rückschau ehrlich sind: die deutsche Wiedervereinigung war ja keine besonders visionäre Vorstellung, davon redete man im politischen Bonn nahezu jeden Sonntag.

Dazu kam das Eigeninteresse des Politikers und Machtmenschen Helmut Kohl. Man kann die Geschichte nämlich auch so erzählen: Kohl ging im Dezember 1989 im Osten schon auf Stimmenfang für die ein Jahr später angesetzte Bundestagswahl, die er, wäre es eine reine westdeutsche Wahl gewesen, wohl verloren hätte. Und seine Rechnung ging auf: im März gewann seine Ost-CDU die Volkskammerwahl, im Juli kam das gleiche Geld, im Oktober ein Land, im Dezember 1990 die gemeinsame Bundestagswahl: Sieg!

Und wie erging es dem Mauerkind West seinerzeit? Fasziniert schaute es in den Ostteil der Stadt, wo sich mit der Auflösung der Machtstrukturen die Anarchie breitmachte, also in deutschen Portionen zumindest: Keller wurden zu Clubs, verfallene Mietkasernen zu Kunstquatieren, leerstehende Gebäude einfach bewohnt, denn niemand schienen sie zu gehören. Und das Mauerkind West musste mit ansehen, wie all das mit dem Vollzug der Währungsunion beendet war, und wie ihr die Schlagworte der Fantasielosigkeit auf dem Fuße folgten: Rückgabe vor Entschädigung, Altschulden, Treuhand – und wie all die Fragen, der sich die Industriegesellschaft gerade stellen musste – Umweltschmutz, Konsumwahn, Mobilitätsirrsinn – plötzlich hinter den Uralt-Themen, die nun den Osten erreicht hatten, verschwanden: Westgeld, Kaufkraft, Arbeit – und das Mauerkind West beschlich das Gefühl, zwanzig Jahre zurück geworfen zu sein.

Kann man Kohl das zum Vorwurf machen? Es gibt etliche Vorwürfe, die ihm zu machen sind: dass die Einheit aus den Sozialkassen der Westdeutschen bezahlt wurde etwa und nicht mit Steuererhöhungen verknüpft wurde, was letztlich den Weg für Hartz IV bereitet hatte. Und ich werfe ihm vor, dass zwar die DDR-Bürger in der letzten Volkskammerwahl über den Weg und die Geschwindigkeit zur Einheit abstimmen konnten, ich aber als Westmensch meinen demokratischen Senf dazu nicht mehr kundtun konnte, denn die erste Bundestagswahl nach dem Mauerfall war bereits gesamtdeutsch.

Alle Deutschen wollten die Wiedervereinigung – das ist heute ein in Stein gemeißelter Satz. Und sicher hätte es für die Einheit auch im Westen eine Mehrheit gegeben, wenn auch vielleicht nicht unbedingt in Westberlin. Und wenn man von seinem Hadern damit heute so erzählt, klingt das wie ein Gemurre von einem anderen Stern. Aber so war es, so fühlte sich das zumindest an, und es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie Geschichtsschreibung nachträglich Gewesenes glattbügelt und daraus fast unabänderlich erscheinende Abläufe formt, so dass die nachfolgende Generation von all den inneren Zwistigkeiten der Zeitgenossen gar nichts mehr weiß. Als ich für einen Fotoband* zur Mauer in einem Begleittext schrieb, dass mit dem Mauerfall und dem Drang zur Einheit bestimmte politische Figuren, die solange darauf gewartet zu haben schienen, nun endlich ihre Geschichte gefunden hätten – womit natürlich Kohl gemeint war –, da hat die junge nachgeborene Lektorin den Schluss des Satzes flugs umgeschrieben: „…Geschichte gemacht haben“.

So sieht man das heute und hält es für normal. Ob Helmut Kohl nun wirklich all das „gemacht“ hat, was mit ihm heute in Verbindung gebracht wird – diese Diskussion überlasse ich getrost Historikern, die noch so etliche Akte wälzen werden, wenn nach dreißig Jahren auch die noch unter Verschluss gehaltenen Dokumente, Briefe und Telefonnotizen frei zugänglich sein werden. Nein, es ist etwas anders, was sich mit Kohl und seiner Art und Weise, wie sich die Einheit unter seiner Kanzlerschaft vollzog, verbindet – und was bis heute nachwirkt: das Ende des Denkens in Alternativen und die Abwesenheit eines Denkmodells, dass uns die neue Welt und ihre Möglichkeiten erschließt.

Stattdessen wurde die eigene Welt erst einmal enger und selbstbezogen, und man schwenkte wieder Fahnen. Ein Vorwurf kann man Kohl daraus nicht machen. Er hatte ja von Anfang an gar nichts anderes beabsichtigt – die geistig moralische Wende rückwärts. Und wenn man ihn und seine Zeit heute noch so sieht, gilt man schon als jemand, der aus der Geschichte gefallen ist.

Ich weiß noch wie es mir erging, als am Abend des 27. Septembers 1998 um 18.01 Uhr die ersten Prognosen über Bildschirm flimmerten. Das Unglaubliche war geschehen: Helmut Kohl war abgewählt. Es war keine Freunde, kein Gefühl des Aufbruchs, es war ein Gefühl der Melancholie, die überwog: über die vertane Zeit, die Ahnung, dass es Jahrzehnte dauern würde, gesellschaftlich wieder dahin zu kommen, wo man vorher schon einmal war. Und das über das Unzeitmäßige, was diese Zeit und ihr Hauptprotagonist an sich hatte – und siehe, da haben wir dann doch etwas gemeinsam, der Herr Kohl und ich.
* Meine Mauer – Fotografien eines Westberliners von 1986 – 1993.
Einen Blick ins Buch gestattet Amazon.

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