Geistig-moralische Verwahrlosung

Zwei Nachrichten vom Wochenende zeigen deutlich, warum es in Europa nicht mehr vorangeht. Die europäische Politik hat den Pfad der Demokratie und der Anständigkeit verlassen.

Es lebe die Demokratie - so wurden in Brüssel die europäischen Spitzenposten besetzt. Foto: Biker Jun / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 2.0

(KL) – Europa manövriert sich selbst ins geistig-moralische Abseits. An diesem Wochenende sah man deutlich, warum sich rund die Hälfte der Europäerinnen und Europäer von der europäischen Politik abgewandt hat, nicht mehr wählen geht und damit den Extremisten aller Couleur Tür und Tor öffnet. Das Geschacher um die Besetzung der europäischen Spitzenposten zeigt, ebenso wie die Verhaftung der Kapitänin der „Sea Watch 3“ Carola Rackete, wie weit sich die europäische Politik von dem entfernt hat, was die Menschen wollen. Schlimmer noch – die europäische Politik zeigt einmal mehr, dass es ihr herzlich egal ist, was die Bürgerinnen und Bürger Europas wollen.

In Brüssel geht es aktuell zu wie auf einem Basar – es wird gedealt, gefeilscht, es werden Absprachen hinter verschlossenen Türen getroffen und all das kann stattfinden, weil sich das institutionalisiert Europa weigert, sich von den 500 Millionen Europäerinnen und Europäern definieren zu lassen. Die „freihändige“ Besetzung der 5 europäischen Spitzenpositionen (Präsidentschaft der drei europäischen Institutionen Europäischer Rat, Europäische Kommission und Europäisches Parlament, der Europäischen Zentralbank und der oder des Europäischen Außenbeauftragten) ist nicht nur peinlich, sondern zeigt auch, dass diese europäische Politik Lichtjahre entfernt von den Menschen in Europa stattfindet. Wäre die Europäische Union so demokratisch wie sie vorgibt zu sein, dann würden wir alle zusammen diese Spitzenpositionen durch eine Wahl besetzen. So aber müssen wir brav draußen bleiben und dann hinnehmen, was die hohen Damen und Herren so entscheiden. Mit „Demokratie“ hat das nicht mehr viel zu tun, zumal wenn man bedenkt, dass keine der handelnden Personen in ihrem eigenen Land eine echte Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hat. Im Gegenteil – die aktuellen Staats- und Regierungschefs repräsentieren in ihren Ländern nur noch zwischen 20 und 30 % der Wählerstimmen und selbst diese Wählerstimmen stellen nur noch die Hälfte der Stimmberechtigten dar. Insofern ist die demokratische Legitimierung bei dieser Besetzung der europäischen Spitzenposten einfach nicht mehr gegeben.

Dass die europäische Demokratie nicht mehr funktioniert, sah man am Wochenende in Italien. Dort ließ Neofaschist Matteo Salvini die Kapitänin der „Sea Watch 3“ Caroline Rackete verhaften und geiferte in unsäglichen Facebook-Videos, dass diese Person nun auf Jahre im Gefängnis sitzen würde. Dabei ist nicht vorstellbar, dass die Mehrheit der italienischen Bevölkerung ebenso neofaschistisch eingestellt ist wie Salvini, dass die Menschen in Italien Schiffbrüchige im Mittelmeer ertrinken sehen wollen wie ihr Innenminister – auch hier versagt inzwischen die Demokratie – weil sie eben nicht mehr stattfindet. Doch wenn man an den Punkt kommt, dass Neofaschisten Menschen inhaftieren, weil diese Schiffbrüchige und damit Menschenleben gerettet haben, dann funktioniert die Demokratie einfach nicht mehr.

Wir erleben gerade eine geistig-moralische Verwahrlosung der Politik und der Demokratie. Dabei haben wir erst vor einigen Wochen ein neues europäisches Parlament gewählt, doch der demokratische Elan, der einige Wochen lang durch Europa zog, ist schon längst wieder erlahmt. Einmal mehr hat man uns vorgemacht, unsere Stimme würde irgendetwas in Europa verändern können. Und einmal mehr muss man feststellen, dass wir Wählerinnen und Wähler nur als Feigenblatt für Politikerinnen und Politiker dienen, denen die Demokratie oder der politische Wille der Menschen völlig egal ist.

Doch das wiederum führt zu Problemen wie dem „Brexit“, dem Anstieg der Extremisten in ganz Europa, der zunehmenden Gewalt auf der Straße, ja, selbst zu politischen Morden. Die Gefahr steigt, dass eines Tages die Straße selbst die Dinge in die Hand nimmt und dem zynischen Treiben der politisch Verantwortlichen gewaltsam ein Ende setzen. So ist es zumindest immer schon in der Geschichte gewesen – es gibt einen „Point of no return“, an dem die Völker das Treiben ihrer Potentaten nicht länger hinnehmen. Wenn dieser Punkt erreicht wurde, kam es systematisch zu gewaltsamen Umstürzen, die in der Regel sehr blutig verlaufen.

Doch was nützt es, an die Vernunft einer abgehobenen und korrupten Kaste zu appellieren, die so abgehoben von den Realitäten der Menschen agiert, dass sie gar nicht mehr mitbekommt, was die Menschen tatsächlich wollen? Aufgrund der Unfähigkeit der europäischen Politik sich zu reformieren, steuern wir alle zusammen auf große Unruhen zu. Aber Hand aufs Herz – wenn Lebensretter im Gefängnis sitzen und korrupte und kriminelle Politiker in Villen residieren, was ist das anderes als die Aufforderung zur Revolution?

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