Geschichte in der Endlosschleife – Oper im Time Tunnel

Die alte biblische Geschichte vom Hebräer Samson und der Philisterin Dalila handelt von allem, was so zwischen Paaren passieren kann, deren Liebe sich auf der Schwelle zwischen öffentlich und privat abmüht: Verrat, Intrige, Gewalt... Genau das richtige für die Rheinoper.

Samson haut auf den Tisch, den reichgedeckten und Dalila prostet ihm zu - werden so Aufstände gemacht? Foto: Opera National du Rhin

(Michael Magercord) – Die Oper ist immer auch eine Zeitmaschine. Mehr als jede andere Kunstform befasst sie sich mit Werken, die oft schon einige Jahrhunderte auf dem Buckel haben. Und dann liegen die Ursprünge ihrer Geschichten noch weiter zurück, mehrere Jahrhunderte, ach: sogar Jahrtausende.

Die Aufführung einer gestandenen Oper hat immer etwas von der amerikanischen TV-Serie „Time Tunnel“ aus den 60ern Jahren. Darin haben sich die beiden Hauptfiguren mithilfe eines aufwendigen Riesencomputers in eine andere die Zeit versetzen lassen. Durch einen Programmierfehler irrten sie episodenweise von einem Zeitalter ins nächste, vor und zurück, immer in Schlips und Rollkragen von Jericho, Troja, ins Mittelalter, die Französische Revolution, nach Pearl Harbour oder bis auf dem damals noch unerreichten Mond. Und immer hatten sie all ihr Wissen und Unwissen ihrer eigenen Zeit im Gepäck.

So wird es uns nun auch in der Rheinoper von Straßburg ergehen, wenn darin die alttestamentarische Geschichte des Hebräers Samson und der Philisterin Dalila aus dem ersten vorchristlichen Jahrtausend zusammen mit Musik aus dem 19. christlichen Jahrhundert geboten wird und wir mit unserem Gegenwartsblick darauf schauen werden.

Die Handlung entspricht der biblischen Vorlage: Die Hebräer, zurückgefallen in den Polytheismus der Vor-Moses-Zeit, werden zur Strafe von Jahwe zur Knechtschaft unter die Philister verdammt. Der Versuch, sich daraus zu befreien, entwickelt sich zu einem Kampf zwischen List und Kraft. Anführer Samson ist ein Gottgeweihter, der seine übermenschliche Kraft aus seiner langen Haarpracht schöpft. Die schöne Dalila verführt ihn und schneidet ihm im Schlaf die Haare ab, damit ihr Volk, die Philister, den Rebell schließlich bezwingen und zur Sklavenarbeit zwingen kann. Aber die Freude des Sieges währt nicht lange, während eines Opfergesanges an den einzigen Gott, gibt der seinem Schützling die einstige Stärke zurück. Die Säulen wanken, der Tempel stürzt ein und Samson reißt die dreitausend Philister mit sich in den Opfertod.

Soweit so gut – doch was fängt man nun mit dieser Geschichte an? Auf so manchen Opernbühnen wurden bereits die einstigen Grausamkeiten mit drastischen Mitteln ins Heute transferiert, in Köln einmal gar so sehr, dass einige Chorsänger nicht mehr mitmachen wollten. In Antwerpen zog man die alte Konfrontation, die sich in Gaza ereignet hatte, in jene der Jetztzeit an gleichem Ort: Ein Regieduo aus Israel und Palästina versetzte das Stück in eine Party von jungen Soldaten, die ihre Rückkehr aus einem Kampfeinsatz feiern, wobei es ziemlich dekadent zugeht. Die beiden Regisseure unterstellen beiden Konfliktparteien ein spiegelbildliches Verhalten, wenn es um die heimliche Erotik von Waffen und Gewalt geht, und erkennen darin einen der Gründe, warum dieser Konflikt einfach nicht enden will – die Oper als Time Tunnel, der zugleich in die Zukunft weist.

„Das Politische in den Opern hallt immer im Heute wider“, sagt auch Marie-Eve Signeyrole, die Regisseurin, die sich nun in Straßburg an die Gestaltung der Neuproduktion der alten Story gemacht hat – soll das dann heißen, dass sich jede Geschichte letztlich immer und immer wiederholt? Egal also, in welcher Richtung wir uns im Time Tunnel bewegen, es ändert sich eigentlich nichts? Marie-Eve Signeyrole, die zuvor an gleicher Stelle Mozarts Don Giovanni in unsere Zeit versetzt hatte, trägt die Auseinandersetzung zwischen Samson, Dalila und ihren Völkern in das Umfeld zeitgenössischer Aufstände wie jene in Südafrika oder Hongkong – und ein wenig schwingt dabei auch immer das Frankreich von heute mit.

Jedenfalls wird Dagon, der Oberpriester der Philister, zum Vorsitzenden einer konservativen Partei und Samson zum Anführer einer rebellischen Bewegung. Wie im Original Gott den Bund mit seinen Mannen für eine Weile fallen lässt, so erscheint es doch vielen Menschen nun so, als wäre in ihren Gesellschaften vor nicht allzu langer Zeit ein über die Jahrzehnte zuvor bestehender Sozialpakt aufgekündigt worden. Was tun? Der Samson von heute verfügt nicht über göttliche Zauberkräfte, er muss stattdessen – so die Straßburger Variante – mentales Rüstzeug aufbauen, um sich gegen die vermeintlich Übermacht und das überkommene Denken zu behaupten. Damit wird der Samson von heute ein moderner Mensch, fast zu einem Du oder Ich, zumindest aber werden du und ich als Zeitreisende in der Opernmaschine zu potentiellen Samsons.

Ist dies nun das Mittel, um die Zeitreisenden in die Gegenwart zu katapultieren? Jedenfalls wird – wie heute so oft auf Theaterbühnen – auch in bei dieser Aufführung noch die Echtzeit ins Spiel gebracht: Direkte Videoaufnahmen vom Treiben auf den Brettern, die die Welt bedeuten, werden auf eine Leinwand darüber projiziert, wodurch das Theater etwas fernsehhaftes bekommt. Nicht mehr ein Raum mit drei Wänden, wo die vierte Wand der Zuschauerraum ist, ist der Ort eines Geschehens, sondern ein flacher, zweidimensionaler Bildschirm.

Was will uns das sagen? Zugegeben, so recht habe ich auch nach der gefühlten hundertsten Aufführung mit Livekameras auf der Bühne die Botschaft hinter den Leinwandbildern noch nicht erfasst. Vielleicht offenbart sich der Sinn in dem unfreiwilligen Effekt: Denn auffallend bei dieser Echtzeit-Doppelung ist ja immer die minimale Zeitverzögerung, die sich zwischen dem Bühnengeschehen und den Ausschnitten daraus auf der Leinwand ergibt. Wie ein kurzer, trügerischer Hänger im Time Tunnel.

Dieser visuelle Schluckauf erinnert daran, dass es auch in der Gegenwart immer unterschiedliche Zeitebenen gibt, die wir heute als Handlungsebenen bezeichnen und die sogar in einer einzigen Handlung bestehen. Oder zugespitzt ausgedrückt: alle Geschichten, ja das Leben selbst spielt sich an der Schwelle zwischen dem, was privat ist, und dem, was öffentlich ist, ab. Es ist dieser Kampfplatz um die stetige Verschiebung der Grenzen zwischen diesen Ebenen, den man gemeinhin als „Gesellschaft“ bezeichnet: Sozialismus oder bürgerliche Demokratie? Stimme des Volkes und freie Meinung? Und Corona lässt übrigens von dieser Schwelle auch schon mal schön grüßen…

Und auch diese Inszenierung will sich genau an diese Schwelle begeben: Dalila, die bisher vor allem als Intrigantin erschien, wird zur wirklich Liebenden, hin und her gerissen zwischen ihrem privaten und dem öffentlichen Leben. Für Samson gilt das gleiche, allerdings sind laut der Regisseurin beide nicht in der Lage, sich ihrer Verstrickungen bewusst zu werden und sie aufzulösen – und an wen gehen die Grüße von der Schwelle da eigentlich? Auf der Bühne wird es natürlich trotzdem so enden, wie es auch immer schon im Time Tunnel der TV-Serie war: Zwar wissen die Zeitreisenden dank ihrer Kenntnis um den Ausgang der Geschichte vorab was geschehen wird. Doch obwohl sie sich redlich mühen, konnten auch sie die kommenden Katastrophen nicht verhindern. Sie scheiterten immer an Umständen der Zeit, in die sie geraten waren, an den überkommenen Handlungsstrukturen und dem Unwillen ihrer kurzfristigen Zeitgenossen neu zu denken.

Und so wäre eigentlich schon alles gesagt, wäre da nicht noch die Musik, die so herrlich aus ihrer Zeit hinüber fließt und uns tatsächlich glauben lassen darf, dass ein ach so schönes Duo zwischen den beiden Vertretern verfeindeter Stämme ein aufrechtes Liebesgeständnis sein muss. Wäre es doch zu biblischen Zeiten schon erhört worden! Und kaum glauben mag man gar, dass diese Oper, die nun zu den Glanzstücken der französischen Gesangskunst zählt, im Frankreich des 19. Jahrhunderts zunächst niemand hören wollte. Die Uraufführung fand in Weimar statt, wo Franz Liszt Kapellmeister war. Immerhin, das hat sich geändert, heute ist Camille Saint-Saëns einer der meistgehörten Komponisten seines Landes. Also ab in den Time Tunnel der Opernmaschine, einen trügerisch untrügerischeren gibt es nicht!

Samson und Dalila
Oper in drei Akten von Camille Saint-Saëns aus dem Jahr 1877

Regie: Marie-Eve Signeyrole
Dirigent: Ariane Matiakh
Philharmonie Straßburg

Opéra Straßburg
FR 16. Oktober, 20 Uhr
DI 20. Oktober, 20 Uhr
FR 23. Oktober, 20 Uhr
SO 25. Oktober, 15 Uhr
MI 28. Oktober, 20 Uhr

La Filature Mulhouse
FR 6. November, 20 Uhr
SO 8. November, 15 Uhr

Weiteres Rezital:
Pavol Breslik – Tenor
Amir Katz – Klavier
Dvorak-Schubert-Liszt-Schneider
MI 21. Oktober, 20 Uhr
Oper Straßburg

2 Kommentare zu Geschichte in der Endlosschleife – Oper im Time Tunnel

  1. Michael Magercord // 19. Oktober 2020 um 21:39 // Antworten

    ABSAGE des Rezitals am 21. Oktober in der Oper Straßburg
    Leider ist es nun wieder so weit: Die Rheinoper Straßburg hat heute Abend das im obigen Artikel noch angekündigte Rezital mit dem slowakischen Sänger Pavol Breslik, das für den kommenden Mittwoch angestzt war, abgesagt. Grund ist eine Krankheit des Künstlers, bei der es sich laut Pressemitteilung allerdings nicht um Covid-19 handeln soll. Von dieser Stelle gute Besserung!
    Die geplanten Aufführungen der Oper Samson und Dalila werden mit den nun leider bereits üblichen sanitären Maßnahmen bis auf Weiteres über die Bühne gehen – und wir wünschen viel Spaß!

  2. Michael Magercord // 24. Oktober 2020 um 12:44 // Antworten

    Immerhin: die Aufführungen in der Rheinoper finden weiterhin statt! Trotz abendlicher und nächtlicher Ausgangssperre. So wird also am Mittwoch, den 28. Oktober, die letzte der in Straßburg geplanten Reprise von Samson und Dalila bereits um 18.00 Uhr beginnen. Ebenso im Novemer in Mülhausen. Das – sehens- und hörenswerte! – Werk endet gegen 20.30 Uhr (abhängig von der Länge des Applaus’…), somit bleibt eine halbe Stunde, um nach Hause zu fahren bzw. den Rhein zu überqueren.
    Auch wenn das nach Hektik klingt, sollte es niemanden davon abhalten diese Inszenierung zu sehen. Zwar hofft man inständig, die Idee, auf der Bühne eine direkt und live aufgenommene Fernsehserie zu präsentieren, wird in den Opernhäusern keine Schule machen. Doch diese Regie-Marotte wenigstens einmal fast in Perfektion geboten zu bekommen, lohnt sich aber sehr. Nur wird man das Gefühl nicht los, gar nicht in der Oper gewesen zu sein, weil man sich dabei ertappt hat, mehr auf die Leinwand geschaut zu haben, als auf das Geschehen auf der geschickt inszenierten Drehbühne. Die wunderbare Musik ist aber eben immer live und wenn der Chor nicht auf der Bühne steht, sondern von der Galerie aus über uns kommt, ist der Sound gar “liver” als sonst. Kurz: Viel Spass und dann einen guten Nachhauseweg wünscht Eurojournalist(e)!

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