Gute Zahlen, schlechte Zahlen…

In Deutschland sinken die Zahlen der Neuinfektionen und schon wird der Ruf nach Lockerungen laut. Gleichzeitig ist die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 weiter sehr hoch.

Abends, nach Verkündung der RKI-Zahlen in der Tagesschau... Foto: NBC Photo by Elmer Holloway / Wikimedia Commons / PD

(KL) – Wer soll diese Zahlen noch verstehen? Täglich werden wir mit einer Flut an Statistiken überschwemmt, die kaum noch richtig einzuordnen sind. So scheint die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland stark zurückzugehen, was aber auch bedeutet, dass sich trotzdem weiterhin viele Menschen neu infizieren, nur nicht mehr ganz so viele wie vor einigen Tagen, doch gleichzeitig bleibt die Zahl der Todesfälle „im Zusammenhang mit Covid-19“ (was immer das auch konkret bedeuten mag) weiter sehr hoch. Fast 60.000 Todesfälle sind bisher in Deutschland registriert worden und niemand spricht mehr davon, so wie während der „ersten Welle“, wie glücklich Deutschland doch dieser Pandemie entgangen ist. So erfreulich es ist, dass die Anzahl Neuinfektionen in Deutschland sinkt, so ist dies noch kein Grund zum Aufatmen und Durchlockern.

Die Pandemie verläuft seit einem Jahr in Wellenbewegungen. Es gibt Spitzen, die wir zum Teil selbst durch Urlaube und Einkaufsorgien vor Weihnachten ausgelöst haben und es gibt Wellentäler, in denen man das Gefühl bekommen könnte, die Geschichte wäre durch. Das ist sie aber nicht. Denn anderswo in Europa sind die Zahlen gleichbleibend hoch, nicht nur in Portugal, sondern in vielen Ländern, und somit muss man damit rechnen, dass auch das aktuelle Wellental nur eine Momentaufnahme sein wird, bevor die nächsten Cluster ausbrechen und auch in Deutschland die Zahlen wieder in die Höhe treiben.

Die verfügbaren und durch niemanden verifizierbaren Zahlen werden von jedem so interpretiert, wie es gerade gebraucht wird. Wie kann man von einer „deutlichen Verbesserung der Lage“ sprechen, wenn sich zwar weniger Menschen neu infizieren, aber was machen wir mit dem Umstand, dass weiterhin jeden Tag rund 1000 Menschen in Deutschland „im Zusammenhang mit Covid-19“ sterben?

Nach wie vor herrscht völlige Uneinigkeit zwischen den europäischen Ländern über die Strategie. – Die einen machen alles dicht, die anderen öffnen alles. Die einen schließen die Schulen und Kindergärten, die anderen machen diese auf und führen somit medizinische Experimente mit Kindern als Probanden durch. Zu einem Zeitpunkt, zu dem die Wissenschaft immer noch nicht versteht, wie das Virus genau funktioniert, wie sich die Mutationen verhalten und sich weiter entwickeln, ist es zumindest fragwürdig, die Kinder der Propagation des Virus mit dem Hinweis auszusetzen, diese würden seltener schwere Krankheitsverläufe erleiden. Das mag heute stimmen, aber morgen? Dass infizierte Kinder als Träger des Virus aber zu dessen weiterer Ausbreitung beitragen, scheint keine Rolle zu spielen.

Den einzigen Bereich, in dem das institutionelle Europa aktiv geworden ist, hat Brüssel an die Wand gefahren. Die zentralisierte Bestellung und Verteilung der Vakzine ist eine einzige Reihe von Pannen. Einmal mehr zeigt sich, dass der schwerfällige Beamtenapparat in Brüssel nicht in der Lage ist, pragmatisch und im Sinne der 500 Millionen Europäerinnen und Europäer zu denken und zu handeln. Doch die Unfähigkeit, über die eigenen Landesgrenzen hinaus zu denken, ist in Zeiten einer Pandemie sehr gefährlich. Denn das Virus zirkuliert weiter, ohne sich um Landesgrenzen zu scheren.

Dass es punktuell europäische Solidarität zwischen einzelnen europäischen Ländern gibt, ist gut. So erfährt Portugal gerade solidarische Hilfe durch mehrere europäische Partner, doch zeigt diese Hilfe gleichzeitig auf, dass es keinerlei europäische Strukturen gibt, die eine gegenseitige Hilfe systematisch ermöglicht. Aber wozu dienen dann die mehr als 30.000 EU-Beamten in Brüssel? Offenbar beschränkt sich deren Rolle darauf, pharaonische Summen in die Finanzmärkte zu pumpen, Banken zu retten und die Interessen von „Big Pharma“ und anderen zu bedienen.

Dazu setzt sich der neoliberale Killer-Kapitalismus durch. – Die Entrüstung darüber, dass immer mehr Organisationen fordern, dass die Vakzin-Patente freigegeben werden, um eine Produktion und Verteilung von Generika zu ermöglichen, mit dem Hinweis darauf, „dass die Unternehmen ja logischerweise Vakzine produzieren, um Geld zu verdienen“, das zeigt, wie weit wir sind. Es wurden Hunderte Millionen, ja Milliarden öffentlicher Gelder in diese Forschung und Entwicklung investiert und jetzt, wo es Impfstoffe gibt, ist die Gier nach Gewinnen der Aktionäre einer Handvoll Pharmafirmen höher einzustufen als der Bedarf der Welt nach Gesundheit und funktionierenden Wirtschafts- und Sozialsystemen?

Es geht, natürlich, nicht um Schuldzuweisungen. Dass keine Regierung der Welt auf eine solche Pandemie vorbereitet sein konnte, das ist jedem nachvollziehbar. Doch ist es beunruhigend, dass die Verantwortlichen mit den immer gleichen Reflexen der Marktwirtschaft und der nationalen Interessen weiter versuchen, das Problem für sich selbst zu lösen und sich offenbar weigern, angemessen zu reagieren und Dinge wirklich anders zu organisieren. Doch wenn man nach einem Jahr feststellen muss, dass alle bisherigen Ansätze nicht funktioniert haben, dann reicht es nicht mehr aus, das „Casino Börse“ und die Finanzmärkte weiter zu befeuern.

Doch langsam wird die Zeit knapp, denn den meisten Staaten geht jetzt die Puste aus und die Endlos-Finanzierung der Wirtschaft wird nicht mehr lange aufrecht erhalten werden können. Ein Gang durch die Innenstadt reicht aus um festzustellen, dass der Zerfall mittelständischer Strukturen begonnen hat.

Auch, wenn wir anfangen uns zu wiederholen – wir brauchen jetzt europäische Lösungsansätze, die nicht etwa darauf abzielen, die Großfinanz weiter zu beglücken, sondern die Gesundheit und Soziales in den Vordergrund stellen. Wenn dies nicht gelingt, wird ein Land nach dem anderen in einen Kontext aus Gewalt und Elend rutschen, aus dem es nur noch wenige Auswege gibt. Es muss jetzt gehandelt werden. Europäisch. Schnell.

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