Hut ab: Chapeau für ein außerirdisches Finale

Spiel Satz, Spiel Satz, Spiel Satz… Das WTA-Damen-Tennisturnier von Straßburg erlebte am Samstag ein denkwürdiges Finale: Drei Sätze, drei Mal über Tie-Break, alles in drei Stunden und sechzehn Minuten. Dann wurde es wahr: Woman IS the Winner.

Wohlbehütet sind beim Tennisturnier IS von Straßburg die Zuschauer auf den Rängen. Und bestens unterhalten sowieso. Foto: © Michael Magercord

(Michael Magercord) – Na, das war ja wieder ganz großes Tennis… Stimmt! Die Internationaux de Strasbourg fanden ihren Abschluss in einem rekordverdächtigen Endspiel, ausgetragen von einer der jüngsten im Feld der Teilnehmerinnen und einer der ältesten. 7:6, 6:7,7:6 lautet das finale Resultat mit dem besseren Ende für Deutsche Angelique Kerber, 34, gegenüber der Slowenin Kaja Juvan, 19 Jahre alt.

Was hat zwischen den beiden schließlich den klitzekleinen Unterschied gemacht, der nach 196 Minuten Schlagabtausch auf höchstem Niveau den Ausschlag für Sieg und Niederlage gab? Erfahrung gegen Unbekümmertheit? Zähigkeit gegen Sturm und Drang? Kraftreserven gegen Energiebündel? Man könnte sicher noch etliche Begriffspaarungen hintereinander reihen. Und man sollte bei der Aufzählung auch immer das Quäntchen Glück mitrechnen, das zu einer so engen Entscheidung immer seinen Teil beiträgt.

Für die Zuschauer jedenfalls galt es ebenfalls Ausdauer zu beweisen, doch wurden sie belohnt mit so manchen wunderbaren Ballwechseln, zu denen sich insbesondere derjenige, der den Matchball brachte, zählen lassen durfte. Beendet wurde das Spiel von einem unterschnittenen Cross – so heißt das nämlich, wenn der Ball von der Seite schräg übers Netz gespielt auf der Seite gegenüber einschlägt und dann auch noch dank des mitgegeben Dralls seitlich wegspringt. Großes Tennis eben, und fast schon außerirdisch…

Womit wir bei der Frage wären, die das Turnier, das sich als Green Tennis Event verkauft, ja selbst aufgeworfen hat: Finden solche Großereignisse noch auf dem mickrigen Planeten A statt? Oder doch schon auf einem fernen Planeten B, diesem Ort also, wo die Ressourcen unbegrenzt sind und ein Leben ohne materielle Begrenzungen ermöglicht – genau dort also, wo sich unsere moderne Überproduktions- und Leistungsgesellschaft ja im Grunde selbst verortet hat.

Und welche Rolle spielt darin der Sport? - Diese völlig unproduktive körperliche Ertüchtigung, die allenthalben um sich greift? Sind die Beanspruchung des Körpers und seine freiwillig zugefügten Leiden vielleicht letzte spürbare Verbindung des modernen Menschen mit der tatsächlichen Welt? Oder ist das Sportgetreibe eher eine Therapie gegen die psychischen Zumutungen der Moderne, die durch die Erzeugung physischer Grenzsituationen abgemildert werden sollen? Oder handelt es sich um eine Variante der totalitären Biopolitik: Soll das Individuum sich abhetzen, damit es schließlich den seelischen Anforderungen der Produktionsgesellschaft standhält? Verbirgt sich in der doch so individuell erscheinenden Leistungserbringung eine verschleierte Mitarbeit an dem gesunden Volkskörper?

Oder aber ist der ständig schneller höher weiter trainierende Sportler bereits am Ende der Herstellungs- und Vertriebskette angelangt und erhebt eine Reklamation gegen ein unzulängliches Produkt: die Verschleißware Menschenleib, die den an ihn gestellten psychischen Herausforderungen ohne weitere Ertüchtigung einfach nicht genügen kann?

Vielleicht ist auch das Gegenteil wahr, und dem Akt des Laufens, des Hetzens und Hinterjagens von Bällen unterliegt eine individuelle Strategie zum Rückzug aus dem Körper der Gesellschaft. Der eigene Leib als das letzte Projekt, auf das ein Individuum in der Moderne noch einen eigenständigen Zugriff hat, Rückzugs- und Gestaltungsgebiet zugleich, das nur sich selbst zum Maßstab nimmt, um sein Optimierungspotential zu erkunden. Sport, die Selbstbehauptung, der Aufschrei gegen die Auflösung seines Selbsts in ein Ganzes, physische Ertüchtigung als Unabhängigkeitserklärung gegenüber den psychischen Ansprüchen und Zumutungen durch Systeme und Netzwerke, die die Grenze zwischen dem Äußeren und dem Inneren aufheben wollen und alles und jeden in die Verantwortung für Zustände zwingen, die die Verantwortbarkeit des Einzelnen bei Weitem übersteigen; Sport, der einzig verbliebene Innendienst, das letzte zielgerichtete Handeln, das noch Aussicht auf einen Binnenerfolg hat, der in der strammen Ertüchtigung selbstbewußt nach außen tritt; Joggen, das Gassigehen mit dem inneren Schweinehund…

Na na na, das eben war ja wieder ganz großes Tennis… Ob dieser Katalog an Mutmaßungen über den Zustand der sporttreibenden Bewohner des vermeintlichen Planeten B wirklich stimmig ist? Darüber nachzudenken, haben wir nun erst einmal wieder Zeit bis zum nächsten Jahr, wenn dann wirklich wieder großes Tennis in Straßburg, Planet A, gespielt wird.

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