„Ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen zu sagen…“
Der Rest dieses Satzes ging vor 35 Jahren im Jubel der Tausenden DDR-Bürger im Garten der westdeutschen Botschaft in Prag unter. Aber es war klar, was der ganze Satz bedeuten würde.
(KL) – Sie waren tatsächlich zu Tausenden aus der DDR ins sozialistische Bruderland Tschechoslowakei gereist, um dort über den Zaun auf das Gelände der Bundesrepublik Deutschland zu klettern, in der Hoffnung, dadurch ihre Ausreise in den Westen erzwingen zu können. Die Mauer war Ende September 1989 noch nicht gefallen, das Regime der DDR versuchte durch letzte Klimmzüge zu retten, was nicht mehr zu retten war, und die Flüchtlinge auf dem Gelände der Prager Botschaft fürchteten nur eines – in die DDR zurückgeschickt zu werden, wo auf „Republikflucht“ zu diesem Zeitpunkt noch hohe Strafen standen. Doch zum Glück hatte die BRD damals einen außergewöhnlichen Außenminister in der Person von Hans-Dietrich Genscher, einem Mann, dessen Partei FDP damals noch funktionierte und der mit allen diplomatischen Wassern gewaschen war.
Die älteren Semester werden sich erinnern, wie es damals weiterging. Es wurden Sonderzüge gechartert, mit denen die Flüchtlinge in einer extrem stressigen Fahrt in verplombten Waggons über das Gebiet der DDR in den Westen gefahren wurden, wobei die Zuginsassen bei jedem Abbremsen des Zuges befürchteten, dass sie nun von Vopos (Volkspolizisten) aus dem Zug geholt und verhaftet würden. Doch das passierte nicht, die Flüchtlinge erreichten den Westen und das angespannte Kapitel fand, auch aufgrund der diplomatischen Fähigkeiten eines Hans-Dietrich Genscher, eine positive Auflösung. Wenige Wochen später fiel dann die Berliner Mauer und das Kapitel DDR endete am 3. Oktober 1990 mit der Aufnahme der „Neuen Bundesländer“ in die Bundesrepublik Deutschland.
Dieses Jahr begehen wir den 35. Jahrestag des Mauerfalls, des Moments, in dem die beiden Deutschlands wieder zusammenfanden, sich der Warschauer Pakt in seine Einzelteile auflöste und etliche frühere Sowjetrepubliken ihre Unabhängigkeit wiedergewinnen sollten. Dieses historische Ereignis zeigt, dass in der Politik und der Diplomatie vieles möglich ist, wenn die richtigen Leute am Tisch sitzen. Und einer dieser Menschen war eben Hans-Dietrich Genscher, der den DDR-Flüchtlingen in der Prager Botschaft die gute Nachricht überbrachte.
Es wäre sinnvoll, würden solche Ereignisse stärker im Schulunterricht behandelt, denn dann würden etliche Jungwähler, die sich heute den kruden Ideen der AfD anschließen merken, dass es in ihren eigenen Familien zahlreiche Fluchtgeschichten gibt, von denen einige in den letzten Tagen des II. Weltkriegs begannen, als viele Menschen vor der Roten Armee in Richtung Westen flüchteten und natürlich die Flüchtlingsbewegungen 1989. Was man sich dabei merken sollte, ist dass Flucht kein willkürliches Abenteuer ist, sondern sich hinter jeder Fluchtgeschichte Dramen verbergen, die es verbieten, Flüchtlinge pauschal zu verunglimpfen.
Auch Deutsche haben in den letzten 100 Jahren mehrfach flüchten müssen, mache, um ihr Leben zu retten wie die deutschen Juden, die es noch aus Deutschland herausschafften, als ihnen die Nazis nach dem Leben trachteten, andere wie die DDR-Flüchtlinge, denen es eher um die besseren Lebensumstände im Westen ging. Verurteilen kann man keine dieser Flüchtlinggruppen, ebenso wenig, wie man heute Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder demnächst aus dem Libanon verunglimpfen sollte.
Auf jeden Fall, Hut ab vor Hans-Dietrich Genscher, der zeigte, was ein erstklassiger Außenminister bewirken kann. Schade, dass wir in den Krisen der heutigen Zeit nur drittklassiges Personal am Start haben, das unfähig ist, auch nur eine der aktuellen Krisen zu lösen.
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