Im Land der siebenhundert Zwerge

Nun seid ihr alle wieder da, liebe EU-Parlamentarier. Monat für Monat empfangen wir euch in Straßburg mit offenen Armen. So sei mir erlaubt, diesen Willkommensgruß mit einer Erinnerung an eurer Auftreten vor einem Monat zu verbinden. Vorab schon einmal eine Entschuldigung, denn wer will schon gern an sein Versagen erinnert werden...

Dunkle Wolken über dem Europäischen Parlament - und die könnten noch dunkler werden... Foto: Qwesy / Wikimedia Commons / CC-BZ-SA 3.0

(Von Michael Magercord) – Alexander Van der Bellen, der neue österreichische Bundespräsident, hielt im vergangenen Monat seine erste offizielle Auslandsrede. Ausgerechnet vor euch im Europaparlament. All die salbungsvolle Worte an Europa, an die Europäische Union und die Mahnung das Friedensprojekt nicht zu verspielen – das stand in dem vorab verteilten Redemanuskript. Nicht aber dieses Wort, was er hinein schob: Verzwergung.

Plötzlich sprach er von einer Selbstverzwergung der Europäischen Union und seiner Institutionen. Was hatte ihn dazu bewogen, vom Redetext abzuweichen? Hatte er durch die Reihen des Plenarsaals geschaut? Las er aus euren Gesichtern, fand er dieses Wort in den Gesichtern der Abgeordneten? Dabei waren ihm die meisten von euch anwesenden Parlamentariern wohlgesonnen. Marine Le Pen oder Nigel Farage waren ja nicht da, und Martin Sonneborn war gar nicht erst nach Straßburg gekommen – es lässt sich also nur spekulieren, wie es zu dieser Wortwahl kam.

Doch als wolltet ihr Abgeordneten gleich beweisen, dass der Bundespräsident des kleinen Landes richtig liegt, wenn er die Volksvertreter aller EU-Europäer dabei im Auge gehabt hätte, habt ihr kaum zwei Tage später reichlich Anschauungsmaterial dafür geliefert, wie sie vor sich geht, die europäische Selbstverzwergung: Robotern wird es in Zukunft überlassen bleiben, über das Wohl und Wehe der Europäer zu entscheiden. Und Schuld daran seid ihr, die Abgeordneten des Europaparlamentes, weil ihr – fast möchte man sagen: einmal mehr – nicht verstanden habt, worum es darin wirklich ging.

Van der Bellen war also schon wieder weg, da stand tags drauf die Debatte über den Bericht A8-0005/2017 über den “Entwurf einer Entschließung mit Empfehlungen an die Kommission zu zivilrechtlichen Regelungen im Bereich Robotik” auf euer Tagesordnung. Zwei Jahre wurde darüber in den Fachausschüssen beraten. Beteiligt waren fast alle: Wirtschafts-, Industrie- und Verkehrspolitiker, die Ausschüsse für Soziales, bürgerliche Freiheiten, Gesundheit, Umwelt und Verbraucher. Es ging um Technik, Haftung und Rechtsfragen, aber auch um die Folgen der Automatisierung auf den Arbeitsmarkt.

Erinnert ihr euch noch daran? Berichterstatterin war eure sozialdemokratische Abgeordnetenkollegin Mady Delvaux, sie stellte die Abstimmungsvorlage zusammen. Ein umfangreiches Konvolut, so umfangreich wie das Thema, worin die Kommission schließlich auffordert wurde, eine Agentur einzurichten, die weiter forscht und die Umsetzung in die Praxis begleitet. Gut, das klingt aufs Erste vielleicht nicht so gewichtig. Und vielleicht habt ihr ja auch deshalb gar nicht erkannt, was in diesem Bericht über das eigentliche Thema hinaus alles in sich steckte: das Potential nämlich, auf lange Sicht die Arbeitsfelder des Hohen Hauses auf jene Fragen auszuweiten, auf die es bisher keinerlei Mitsprache hat, Sozial- und Steuerpolitik. Aber das habt ihr ja kaum einen Tag später sowieso versemmelt, als der Bericht zur Abstimmung stand.

Wie bitte? Ihr könnt euch nicht erinnern? Steht doch so viel anderes auf der Tagesordnung? Na schön, dann noch mal der Reihe nach: Wie alle Parlamentsberichte bestand auch dieser aus der Einleitung und den Stellungnahmen der Ausschüsse. In der Einleitung wird ja immer aufgelistet, auf welche Grundsätze es dem Bericht ankommt. Ihr wisst schon, diese Sätze, die mit der Formulierung beginnen: „In Erwägung, dass…“ Und unter Punkt „K“ wurde in diesem Bericht nun erwogen, dass Roboter in Zukunft Arbeitskräfte ersetzen werden.

Das klingt zumindest ziemlich wahrscheinlich, oder? So sollte man doch auch erwägen, darüber zu reden, was das etwa für die Arbeitswelt bedeutet? Die Erwerbsmöglichkeiten der Zukunft? Oder die Sozialversicherungssysteme? Und dann weiter hinten im Bericht, in der Stellungnahme des Ausschusses für Beschäftigung und Soziales wurden die Fragen noch präziser gestellt: Solle man sich nicht endlich konkrete Gedanken machen über Steuern und Sozialabgaben für Roboter und ein bedingungsloses Grundeinkommen für die Menschen?

Die Idee zur Besteuerung hatte im Vorfeld zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Industrieverbänden geführt, und es ist anzunehmen, dass der ein oder andere derer Vertreter dahingehend bei euch vorstellig geworden ist. Und das Grundeinkommen ist ohnehin umstritten. Aber genau deshalb gehören diese Themen ja auch diskutiert. Das hat jedenfalls die Berichterstatterin uns Journalisten bei der üblichen Pressekonferenz in den Katakomben des Parlamentsgebäudes gesagt. Wie allerdings ein kohärenter Ansatz im derzeitigen Rahmen der EU, die über keine Kompetenz in der Sozial- und Steuerpolitik verfüge, umgesetzt werden solle, wusste auch sie nicht. Ihr Bericht werfe eher Fragen auf, als bereits Antworten zu liefern, und dazu gehörten nun einmal jene Fragen, die ihr die Menschen im ihrem luxemburgischen Wahlkreis stellen, wenn die von Robotern hören. Denen geht es eben nicht um technische Normen oder Haftungsfragen, sondern um die sozialen Folgen, sagte Mady Delvaux und sah damals für den nächsten Tag noch eine spannende Debatte voraus.

Nun ja, eine Fach-Debatte im EU-Parlament spannend zu nennen, ist allein schon ziemlich gewagt. Aber wem erzähl ich das, ihr wisst ja selber, dass das Plenum dann nur spärlich besetzt ist, und von euch nur immer die da sind, die entweder was sagen müssen – die Ausschusssprecher, der zuständige EU-Kommissar, die Fraktionssprecher –, oder die, die meinen, in ihrer Redezeit von einer Minute tatsächlich was zu sagen zu haben. Viele sind das eben nicht, und weil nur so wenige von euch Abgeordneten überhaupt dabei waren, hier noch einmal das wichtigste aus der Debatte in Kürze:

Sichtlich stolz zeigte sich anfangs der amtierende Parlamentspräsident: sein Parlament sei das erste der Welt, das sich derart umfassend mit einer so wichtigen Problematik beschäftige. Lob kam auch vom zuständigen EU-Kommissar: ein umfangreicher, ein richtungsweisender, ein leidenschaftlicher Bericht. Geschenkt, dass ein rumänischer Abgeordneter gleich schon einmal sein Land als Sitz der neu zu schaffenden Agentur anbot. Logisch auch, dass die Marktliberalen sagen, man müsse Europa den Wettbewerbsvorteil sichern: bloß keine Steuern, sie verhindert nur Innovationen. Klar auch, dass die Neoliberalen keine Angst vor Robotern haben: die bringen Wachstum. Sorgenvoller die Wertkonservativen: ist ein Roboter eine Rechtsperson, soll für den Unfall etwa ein selbstfahrendes Auto haften? Furcht überwog wie immer bei den Linken: vor der militärischen Nutzung von Robotern und den Kaufkraftverlusten der freigesetzten Arbeiter. Gelernte Osteuropäer verweisen immer gerne auf Marx: Maschinen befreien die Menschen und geben ihnen das wertvollste zurück, was sie haben, Zeit. Und die britische Labourabgeordnete aus hintersten Reihe – ihr wisst schon: die mit den bunten Pullis – fragte sich schon mal, wie wir Europäer unsere Zeit verbringen werden, wenn es statt Arbeit ein Grundeinkommen gibt: Schauen wir dann nur noch blöde TV-Serien?

Eineinhalb Stunden, dann ist die Debattenzeit um, blieb nur noch Zeit für den letzten Appell der Berichterstatterin an euch: Das war ein Anfang, man dürfe nun diese Debatte in ihrer ganzen Breite nicht abwürgen, bevor sie überhaupt begonnen habe. Kaum vierundzwanzig Stunden später muss Mady Delvaux genau das beklagen: „Ich bin enttäuscht, dass eine offene und nach vorne gerichtete Debatte unterbunden wurde und auf diese Weise die Sorgen der Bürger unberücksichtigt gelassen werden.”

Was war in der Zwischenzeit geschehen, was die gute Frau so deprimiert hat? Es war nicht die Rede von Justin Trudeau, die der am Sitzungsdonnerstagvormittag anlässlich der CETA-Zustimmung gehalten hatte. Obwohl die – zugegeben – ziemlich deprimierend war. Denn als kanadischer Premierminister nichts besseres zu sagen zu haben, als dass die Winterstiefel der Marke Manitobah nun, vom Zoll enthoben, in Europa siebzehn Prozent günstiger zu haben sind, das ist gelinde gesagt lächerlich. Aber geschenkt, denn was dann folgte, war gelinde gesagt erbärmlich. Wie an jeden Straßburger Sitzungstag zwischen zwölf und vierzehn Uhr standen nämlich die Abstimmungen an. Auch die zum Bericht A8-0005. Und da jeder Punkt in der Einleitung des Berichtes – falls von einer Fraktion gewünscht – einzeln zur Abstimmung steht, konntet ihr zeigen, wie wenig ihr die Tragweite eures Tuns überhaupt durchschaut. Denn alle Punkte kamen durch, nur der einzig wichtige nicht, Punkt „K“. Abgelehnt mit 288 zu 302 Stimmen aus der Volkspartei, den Liberalen und Konservativen. Und damit Ende der Diskussion über sozialen Folgen, Grundeinkommen und Besteuerung von Robotern. Von Punkt „K“ befreit, fand der Bericht dann eine breite Mehrheit von 396 zu 123 Stimmen.

Roboter auf dem Vormarsch – klar, wer da nun vorab gezielte Lobbyarbeit vermutet, begibt sich auf das weite Feld außerparlamentarischer Spekulationen. Das wollen wir ja alle nicht. Und ein Parlamentsbeschluss ist ja ohnedies nur eine Aufforderung an die Kommission, entsprechende Richtlinien zu erstellen, der die Kommission aber nicht unbedingt nachkommen muss. Sie müsste aber ihre Ablehnung wenigstens gut begründen. Jetzt braucht sie nicht einmal mehr das. Jetzt muss sie nicht einmal mehr darauf verweisen, dass sie bislang gar nicht für Sozial- und Steuerpolitik zuständig ist. Aber genau dieser Bericht hätte einen Schritt in diese Richtung bedeutet. Einen kleinen nur, aber eine wichtigen für den Zusammenhalt der Union. Denn nur mit der Klärung von Haftungsfragen oder liberatärer Wettbewerbsförderung wird sie sich nicht mehr zusammenhalten lassen.

Ihr Abgeordnete seid im EU-Wechselspiel zwischen Kommission, Ministerrat und Parlament eben immer noch politische Zwerge. Und schuld daran, dass es nichts werden wird mit einer Sozial- oder Steuerunion seid ihr natürlich nicht allein. Aber mithilfe der Roboter wäre es vielleicht möglich gewesen, den ersten, mutigen Schritt in diese Richtung zu tun. Der wurde nicht getan.

Ein klarer Fall von Selbstverzwergung eben. Oder ist es wirklich nur ein Schelm, der dabei denkt, dass es sich bei euch 751 EU-Parlamentariern ohnedies nur um Abstimmungsroboter handelt, die zudem bereits ein bedingungsloses Grundeinkommen beziehen? Ein ziemlich üppiges obendrein, auf das sie nur geringe Steuern und kaum Sozialabgaben zahlen.

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