In höheren Sphären walten Interpretationen – OPS testet Fallhöhe

In den beiden folgenden Abonnentenkonzerten werden die Straßburger Philharmoniker auf höchstem künstlerischem Niveau zusammen mit ihren Interpreten Interpretationen interpretieren – und wir Zuhörer interpretieren unser eigenes Zuhören.

Kein schiefer Ton bitte. Sol Gabetta gehört unter den Cellisten zu den Besten, unter den Cellistinnen sowieso. Foto: Julia Wesely / Website Sol Gabetta

(Michael Magercord) – Waren die vorhergehenden Konzerte noch Tonmalerei, worin der Klang vor allem Bilder und Images erzeugen wollte, so sind wir nun in dem Bereich der Tondichtungen. Wobei es auf die Interpretation ankommen wird, zumal mit der Cellistin Sol Gabetta eine der derzeit versiertesten Interpretinnen ihres Instrumentes eines der überinterpretiertesten Konzerte für Cello interpretiert.

Zugegeben, diese kurze Einführung in das folgende Abonnentenkonzert der Straßburger Philharmonie war nun an sich schon ganz schön überinterpretierend. Aber Achtung: Vorm Interpretieren gibt es kaum ein Entkommen, weder für den Komponisten, noch den Interpreten und nicht einmal für den Zuhörer, der unweigerlich versuchen wird, das Gehörte irgendwie oder irgendwohin einzuordnen.

Witold Lutosławski, der Komponist des Cellokonzertes, das am 12. und 13. Mai in Straßburg zu hören sein wird, hatte sich und seine Kompositionen immer vor der Überinterpretation verwahrt. Es gebe in seinen Werken keine „extra-musikalischen“ Botschaften und ebenso wenig „erzählten sie eine Geschichte“. Aber da hat der Komponist und studierte Mathematiker, der die Musik zwar mit der Mathematik verwandt sah, nicht aber mit der Erzählkunst, die Rechnung ohne den Interpreten gemacht. Denn schon sein erster Solist, dem er das Cellokonzert auch noch gewidmet hatte, wiedererkannte darin die Geschichte eines Don Quichotte des 20. Jahrhunderts. Der Gigant des Cellos, Mstislav Rostropovitch, höchstpersönlich uraufführte 1970 dieses Konzert als „Symbol des Kampfes des Individuums gegen die feindlichen Massen“.

Bei dieser Interpretation durch den Interpreten schwingt natürlich auch das Selbstbild des interpretierenden Solisten als einsames Künstlergenies mit. Aber trotzdem: Ein wenig könnte es gar auf Witold Lutosławski, dessen ersten Werke noch verboten worden sind, zutreffen. Denn obwohl sich der Pole immer für das Schaffen der Neuen Musik im Westen interessiert hatte, und obwohl für ihn in den späten 50er Jahren im post-stalinistischen Ostblock endlich auch Experimente mit neuen Tönen und seriellen Techniken möglich wurden, wurde er nie wirklich ein Teil der Avantgarde. Sein Platz war zwischen den Stühlen, wo es vielleicht nicht am bequemsten ist, wo man aber eher sein ganz eigenes Plätzchen finden kann. So eigen, dass Galina Wischnewskaja, die Ehefrau des ersten Solisten, in dem Cellokonzert gar einen Kampf ausmachte zwischen dem Solo-Cello und dem Orchester: mal gewalttätig, mal freundschaftlich.

Ganz so kampfeslustig werden die Interpretationen des kurzen Orchesterstückes „Winterhimmel“ von Kaija Saariaho nicht ausfallen, was aber eher im Wesen seiner Musik liegt als am Titelthema. Die sphärischen Klangwelten, in die uns die finnische Komponistin versetzt, sollen das Wintersternbild des Orions erinnern, also an den mystischen und abenteuerlichen Jäger Orion, dem der Gott Zeus seinen Platz am Himmel als strahlenförmiges Sternenbild zuwies – werden die Interpretatoren es im Konzertsaal wieder erkennen?

Einfacher machen es den Interpreten die beiden Tondichtungen von Richard Strauss, die das Konzert einrahmen. Schon der Titel ist ihr Programm: „Don Juan“, benannt nach dem dramatischen Gedicht des Romantikers Nikolaus Lenau, und „Tod und Verklärung“ über die Visionen eines mit dem Tode ringenden Fieberkranken. So jedenfalls hat der Komponist den Anspruch an die Vorstellungskraft seiner Musik selbst formuliert. Hin und her gerissen zwischen Schmerz und Träumen wird der Todkranke sein Leben bilanzieren. Die „Leuchte seines Lebenspfades“ sehe er vor sich, nämlich sein Ideal, das er „zu verwirklichen, künstlerisch darzustellen versucht hat, das er aber nicht vollenden konnte, weil es von einem Menschen nicht zu vollenden war“. Doch nun, wo in der Tondichtung die Todesstunde naht, wird es endgültig: „Die Seele verlässt den Körper, um im ewigen Weltenraum das vollendet, in herrlichster Gestalt zu finden, was es hienieden nicht erfüllen konnte” – bei so viel Vorinterpretation müsste sich die Musik ja eigentlich von alleine interpretieren. Braucht es dazu überhaupt noch die Zuhörer oder steht und fällt die Interpretation mit der Interpretation?

100 Prozent russisch – Nun könnten wir Zuhörer uns schön zurücklehnen und behaupten, Musik ist Musik und wir hätten gar nichts zu interpretieren. Das gilt sogar für das folgende Konzert der Straßburger Philharmoniker nur eine Woche später, wo einmal mehr gestandene Werke gestandener Komponisten von gestandenen Musikern dargeboten werden. Aber einmal mehr Achtung: Dieses Konzert wird uns vor eine Frage stellen, von der man vor wenigen Wochen nicht gedacht hätte, dass sie überhaupt zur Interpretation anstünde.

Denn auf dem Programm, das unter dem Taktstock von Aziz Shokhakimov erklingen wird, stehen Schlüsselwerke der beiden großen russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Die 1. Symphonie von Sergej Prokofjew, die er selbst als die „Klassische“ betitelt hat, macht den Anfang. Im Jahre 1918 war es eigentlich ziemlich out, dem 18. Jahrhundert eine Reminiszenz zu erweisen. Aber die Ehre galt wohl weniger dem guten alten Josef Haydn als vielmehr dessen Charakterstärke: „Wenn Haydn heute noch lebte“, schrieb Prokofjew, „würde er seine Art zu schreiben beibehalten und dabei einiges vom Neuen übernehmen. Solch eine Sinfonie wollte ich schreiben – eine Sinfonie im klassischen Stil.“

Die russische Geigerin Patricia Kopatchinskaja wird danach das energetische 1. Violinkonzert von Dimitri Schostakowitsch spielen, ein Werk, das erst 1955, sieben Jahre nach seiner Fertigstellung, in der Öffentlichkeit erklingen konnte. Zuvor galt noch der Beschluss des ZK der KPdSU gegen „Formalismus und Volksfremdheit“ in der Musik, worin die Werke von Schostakowitsch und Prokofjew namentlich als schlechte Beispiele genannt wurden. Was allerdings gerade für das Violinkonzert eine Fehlinterpretation war, denn ihm unterliegen ausdrücklich Elemente der Volksmusik. Allerdings handelt es sich um jüdische Musik, und so muss die Ablehnung wohl politisch interpretiert werden, lief doch 1948 die antizionistische Kampagne im Zuge der israelischen Staatsgründungskriege.

Das Konzert wird schließlich abgerundet von zwei Orchester-Suiten aus dem Ballett Romeo und Julia von Sergej Prokofjew, ein einfach nur schönes und unverfängliches Meisterwerk. Und trotzdem können wir uns selbst bei diesem unschuldigen Stück der Interpretation einer aktuellen Frage nicht entziehen: Ist das Programm dieses Konzertes mit russischen Komponisten nun in Zeiten des Ukrainekriegs noch zeitgemäß? Oder ist diese russische Musik jetzt erst recht zeitgemäß, fühlten sich ihre Komponisten in ihrer Heimat doch auch immer ein wenig in einer „inneren Emigration“? Als vor einem Jahr das dicke Programmheft des OPS für die gesamte Saison gedruckt wurde, hieß das Konzert noch „Russische Meister“. Und wie man vor drei Jahren eine Konzertreihe noch stolz als „100 % Schostakowitsch“ verkünden konnte, versprach der Ankündigungstext ein „100 % russisches“ Konzert. Doch nun stehen auf den Plakaten nur noch die Namen des Dirigenten und der Geigerin in der Titelzeile.

Und jetzt sind auch noch die Zuhörer gefragt, wie sie ihre Anwesenheit bei dem Konzert interpretieren. Verleiht die aktuelle Lage dem Hören dieser Werke eine andere Note? Klingen sie in unseren Ohren befremdlicher, als vielleicht noch vor drei Monaten? Wohl dem, der sich dem puren Genuss unabhängig von allen gerechtfertigten und ungerechtfertigten Zuschreibungen hingeben kann. Aber kann er? Wie im Grunde ja jedes andere auch, ist dieses Konzert ein ganz besonderer Selbsttest für die eigene Unabhängigkeit der Wahrnehmung und des Denkens, auch wenn letzteres wohl mehr ein Grübeln sein dürfte. Aber dem Interpretieren kann man nun einmal nicht entgehen, vor allem, wenn es darum geht, die eigene Interpretation zu interpretieren.

Résonnance des mythes – Konzert der Straßburger Philharmonie OPS

Strauss – Don Juan
Lutoslawski – Cellokonzert
Saariaho – Winterhimmel
Strauss – Tod und Verklärung

Dirigent: Hannu Lintu
Cello: Sol Gabetta

DO 12. Mai und FR 13. Mai, 20 Uhr
Palais de la Musique et des Congrès

Nächstes Konzert:

Aziz Shokhakimov | Patricia Kopatchinskaja

Prokofjew – 1. Symphonie „Die Klassische“
Schostakowitsch – 1. Violinkonzert
Prokofjew – Romeo und Julia, Suiten 1 und 2

Dirigent: Aziz Shokhakimov
Violine: Patricia Kopatchinskaja

DO 19. Mai und FR 20 Mai, 20 Uhr
Palais de la Musique et des Congrès

Informationen und Karten: www.philharmonique.strasbourg.eu

Und hier noch ein Hinweis auf eine (der vielen) CD-Einspielung der Cellistin Sol Gabetta.

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