Indien ist die Welt – Arsmondo Festival 2020

Arsmondo, das Straßburger Festival der Weltkultur, führt uns nach Indien. In den nächsten zwei Monaten wird die Kultur des Subkontinents, der eine Welt in sich darstellt, unseren oft doch etwas eingeschränkten Blick auf die Welt ein wenig weiten.

Arsmondo - ein Blick auf Indien, auf eine ganz andere Welt... Foto: Opéra National du Rhin

(Von Michael Magercord) – Am Ufer des Ganges stehen, mit abgemagerten heiligen Kühen den Bürgersteig teilen, an langen Reihen von Bettlern vorbei in die räucherschwadende Dunkelheit der Tempel eintauchen, bei waghalsigen Busfahrten über holprige Straßen aufs gute Kharma hoffend – wer wachen Geistes nach Indien fährt, kommt als anderer Mensch zurück. Zumindest aber mit tiefen Einblicken in das menschliche Leben und so mancher Erkenntnis über die spirituellen Quellen des irdischen Daseins.

Auf nach Rishikesh! In die heilige Stadt am Oberlauf des Ganges, da wo der heilige Fluss seinen Lauf aus den Bergen ins indische Tiefland wendet. Am Ufer die Ghats für die Pujafeiern, dahinter die Ashrams, wo Yogis und Gurus Lehrstunden erteilen. Heilige Kühe in den Gassen und vor den Tempeln für die rund 330 Millionen Götter der Hindus stehen die Bettler in langen Reihen – unter ihnen: mein Guru.

Mein Guru lebte auf der Straße, unterhielt aber eine Homepage. Tagsüber tat er das, was alle wollen, die nach Rishikesh kommen: Er schaute auf den Ganges, den heiligen. Er sah in seinem Fließen das Sinnbild für den Fluss der Gedanken, die er dann auf seiner Website ins Netz stellte, sobald das zusammengebettelte Geld wieder für eine abendliche Stunde im Internetcafé reichte. Es waren flüchtige Weisheiten, die er niederschrieb, die er selbst so ernst nahm wie das Fließen des Flusses: Unsere Gedanken kommen und gehen, sagte mein Guru, wer seine Gedanken ernst nimmt und in ihnen versinkt, ist schon verloren.

So verloren, wie ihm die vielen Menschen vorkamen, die von weither nach Rishikesh kamen, aus Nordamerika und Europa nämlich. Die verbringen viel Zeit bei den Yogis in den Ashrams oder bei teuren Meditationsseminaren, um ihre innere Unruhe loszuwerden. Doch woher kommt bloß ihre Unruhe? Die kommen doch aus Ländern, wo man ganz beruhigt sein kann, wo doch fast alle Menschen alles haben, was man so braucht: ausreichend zu Essen, ein Dach über dem Kopf, ein weiches Bett und wer weiß, vielleicht noch vieles mehr.

Doch nach vielen Gesprächen mit diesen Getriebenen hatte mein Guru begriffen, was sie so umtriebig werden lässt: Es ist der Hunger, der die Menschen seit Menschengedenken zum Handeln nötigt. Mein Guru kannte den Hunger noch in seiner Urform, doch auch diese Menschen aus der Ferne treibt er nach wie vor an, nur dass er bei ihnen nicht mehr in der Magengegend nagt, sondern an ihrer Seele. Ohne diesen Hunger täte und strebe kein Mensch nach Mehr. Doch was würde aus den kapitalistischen Industriegesellschaften, in denen diese Menschen leben, werden ohne dieses ewige Streben? Also organisieren diese Gesellschaften ihre Systeme so, dass der gute alte zermürbende Hunger ihre Mitglieder weiterhin antreibt. Nun aber nach ganz anderem, als nach einer warme Mahlzeit, nach der der Magen verlangt, sondern für Dinge und Waren, die schließlich ihre Seelen zermürben.

Von da an hatte mein Guru nicht nur verstanden, dass diese Menschen tatsächlich leiden, sondern ebenso warum die Industriegesellschaft, aus der die Leidenden kommen, über alles menschliche Maß hinaus produktiv ist: Es ist der gute alte Hunger, der in der Produktion um der Produktion Willen seinen Ausdruck findet. Und mein Guru, der am liebsten am Ganges sitzt und auf den Fluss starrt, weiß seither, dass er es in Rishikesh gar nicht so schlecht getroffen hatte: Indien sei nämlich, sagte er, „ein gutes Land für Faule“.

Und für die Besuche aus den fernen Gesellschaften des Übermaßes war Indien ein gutes Land, um sich endlich klarzumachen, dass alles in der Welt, auch in der modernen, esoterisch ist. Ist der Mensch nämlich satt und sitzt im Trockenen, sind alles Weitere pure Ausgeburten seiner hungrigen Seele. Was ein Mensch über seine Grundbedürfnisse hinaus anstrebt, ist seine Kultur, ganz egal, ob die nun traditionell daherkommt oder im modernen Gewand einer bunten Warenwelt. Und ja, mein lieber Guru, diese tiefe Erkenntnis war meiner verstörten Seele eine warme Mahlzeit wert.

Es ist schon eine gute Weile her, als ich mit dem bettelenden Internetweisen schließlich in einem Restaurant mit Blick auf den fließenden Ganges zu Abend aß. Seither hat sich Indien in eine große Mittelschicht herausgebildet, die von demselben Hungergefühl angetrieben wird, wie wir seelengemarterten Nordamerikaner und Europäer. Gemeinsam sind wir in die globale Welt eingebunden und werden an den Ansprüchen ihres gefräßigen Hungers gemessen, egal, ob wir einer traditionellen oder modernen Kultur angehören. Die Globalisierung lässt sich besser verstehen, wenn man sie als Konfrontation der kulturellen Überzeugungen mit einem ungezügelten Kapitalismus und dessen materiellen Wertungen auffasst. Doch nichts gegen die Vorgaben der modernen Menschenrechte, die nun immer öfter gegen die zerstörerischen Nebenwirkungen der Globalisierung ins Feld geführt werden: Widerborstiger stellen sich traditionelle Überzeugungssysteme der Gefräßigkeit des globalen Kapitalismus entgegen.

Mehr und mehr sind die vormodernen Kulturen gefragt, das geistige Unterfutter des Widerstands gegen den Hunger der Globalisierung zu bieten. Der Blick auf ihre Vorstellungen lohnt sich also, um sich für den Konflikt zwischen der Globalisierung und der Kultur zu rüsten. Und wenn es uns dann noch so leicht gemacht wird, wie mit dem diesjährigen „Arsmondo Festival Indien“ in Straßburg und Mulhouse, Wissen über eine fremde Kultur zu erwerben: Einfach in die Oper gehen, einer Konferenz in der BNU beiwohnen, einen Film im Odyssee anschauen oder eine Ausstellung anschauen, und schon tauchen wir ein in die Welt der Gurus, Yogis, Götter und Gelehrte. Und wer weiß, vielleicht hält sie so manche Erkenntnis bereit, die uns den spirituellen Quellen unseres irdischen Daseins ein wenig näher bringt.

Doch wird es dann auch schon bald soweit sein und der Hunger endlich bewältigt werden? Mein Guru, als ich ihn damals fragte, wie lange denn dieser Kapitalismus noch wüten werde, wollte mich beruhigen: Das wird nicht mehr lange dauern, denn so ein zerstörerisches System kann nicht ewig bestehen. Ja sicher, das ist klar, aber wie lange, oh großer Guru, wird es noch andauern? So ein Quatsch wie der Warenkapitalismus wird schon bald überwunden sein, denn die bedeutungsleere Jagd nach immer neuen Dingen muss mündigen Menschen schon bald zu blöd werden. Ja richtig, oh weiser Mann, aber wann wird es soweit sein? Lange wird es nicht mehr dauern, beruhigt der Guru, dann ist Schluss damit und die Menschen erkennen die wahren Werte wieder. Ja doch, großer Meister, aber bitte: Wiiieee laaangeee? Also höchstens noch so rund zweihundert Jahre…

Oh, na dann danke auch für diese beruhigende Aussicht – und ebenso an das Festival Arsmondo, das uns den Blick weitet auf eine alte und geduldige Kultur, deren Sicht auf das Leben uns und dem Indien von heute noch großen Nutzen bringen könnte.

Festival ARSMONDO INDIEN

seit 1. März bis 8. April in Straßburg
und ab 13. März bis 7. April in Mulhouse

Programm des Festivals HIER!

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