Internationale Gedächtnisarbeit

Eine internationale historische Kommission hat die entsetzlichen Experimente der Nazis an der Medizinischen Fakultät der „Reichsuniversität Straßburg“ untersucht.

Übergabe des 500 Seiten starken Berichts der "Internationalen historischen Kommission". Foto: Eurojournalist(e) / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Das Medieninteresse an der gestrigen Vorstellung des fast 500 Seiten starken Berichts der internationalen „Historischen Kommission“ zu den furchtbaren Experimenten, die in der Medizinischen Fakultät der „Reichsuniversität Straßburg“ unter den Nazis durchgeführt worden waren, war enorm. Die von der Universität Straßburg eingesetzte Kommission unter Leitung von Florian Schmaltz (Max-Plack-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin) und Paul Weindling (Oxford Brookes University) stellte einen Bericht vor, der viel Neues beinhaltet, viele Fragen beantwortet und viele neue Fragen aufwirft.

Die Tatsache, dass eine internationale Kommission diese wissenschaftliche Gedächtnisarbeit geleistet hat, ist bemerkenswert. Zum einen zeigt es, dass wir in einer Zeit angekommen sind, in der es endlich möglich ist, eine historische Aufarbeitung der Nazizeit im besetzten Elsass durchzuführen, die wissenschaftlich ausgerichtet ist und nicht davon geprägt ist, dass man sich gegenseitig den eigenen Widerstand erzählt. Wissenschaftler aus Frankreich, Deutschland, England, Schottland und anderen Ländern haben zu dieser Aufarbeitung des Horrors beigetragen, der zwischen dem KZ Natzweiler und der Medizinischen Fakultät der „Reichsuniversität Straßburg“ stattfand. Dass damals 40 % des medizinischen Personals aus dem Elsass und dem Moselgebiet stammten, ist eine historisch gesicherte Tatsache, die dabei hilft zu untersuchen, wie sich ein System wie der Nazismus in alle Tiefen der Gesellschaft schleichen kann.

Hoch interessant ist auch die Frage nach der wissenschaftlichen Ausrichtung der Experimente, die in der Medizinischen Fakultät in Straßburg durchgeführt wurden. So gab es die grauenhaften Experimente, speziell gegen Ende des Kriegs und überwiegend an Sinti und Roma durchgeführt, bei denen der Tod der Patienten fester Bestandteil der „Versuchsanordnungen“ war. Doch gab es auch Experimente, bei denen die Versuchspersonen überlebten, die aber dennoch Kriegsverbrechen nach der Genfer Konvention darstellten. Viele dieser Experimente dienten der Rassenforschung der Nazis und das wiederum wirft generell die Frage nach der Medizinethik auf.

Es gibt keinerlei Rechtfertigung für das, was in den Jahren 1941 bis 1944 an der Medizinischen Fakultät getan wurde. Sämtliche Experimente und Versuchsreihen fallen unter die Bezeichnung „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und die Wissenschaft muss sich die Frage stellen, auch im Jahr 2022, in wessen Auftrag und Interesse sie arbeitet. Allerdings gibt es heute die Disziplin der Medizinethik, die diese Fragen zu beantworten hat und es würde Sinn machen, die Medizinethik mehr anzuhören, wie beispielsweise zuletzt und bis heute in der Pandemie.

Was die Universität Straßburg anbelangt, deren damaliger Präsident Alain Beretz diese Kommission 2016 eingesetzt hatte, wurde ein großer Schritt gemacht, der allerdings seit dem Film „Les noms des 86“ („Die Namen der 86“) auch nicht mehr vermeidbar war. Dieser Film dokumentierte die 86 jüdischen Opfer der Experimente des Professor Hirt, gab den Opfern ihre Namen und Identität zurück und lief auf mehreren nationalen TV-Stationen. In diesem Zusammenhang seien Raphael Toledano, Emmanuel Heyd und Freddy Raphael genannt, die mit ihrem Film dafür sorgten, dass dieses schwarze deutsch-französische Kapitel nicht in Vergessenheit geraten kann. Ebenfalls erwähnt werden muss der Straßburger Psychiater Georges Yoram Federman, der jahrelang Gedächtnisveranstaltungen für diese 86 jüdischen Opfer organisiert hatte, die von der Öffentlichkeit, aber auch von den offiziellen Stellen lange ignoriert wurden. Dass diese Personen bei der gestrigen Konferenz nicht erwähnt wurden, ist der einzige Wermutstropfen in einer ansonsten hervorragenden Arbeit der Universität Straßburg und aller Partner, die an diesem wichtigen und beeindruckenden Projekt mitgewirkt haben.

Die Empfehlungen der Kommission sind klar – die Medizinische Fakultät sollte eine Gedenkstelle einrichten, genau dort, wo die Opfer dieser entsetzlichen Experimente gefunden wurden, die Bevölkerung sollte aktiver in diese Gedächtnisarbeit eingebunden werden und die Forschung muss weitergehen. Denn auch das zeigt dieser Bericht: In den Arbeiten wurden zahlreiche Dokumente und Ressourcen gefunden, die zeigten, dass das Ausmaß dieser Nazi-Experimente noch deutlich grösser war als angenommen. Der Respekt vor den Opfern will, dass man an dieser Stelle weiterarbeitet. Doch genau das haben die Wissenschaftler auch vor und man kann allen Beteiligten nur Beifall für die geleistete Arbeit zollen.

Der gesamte Bericht kann kostenlos unter DIESEM LINK abgerufen werden.

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