Irgendjemand muss ja die Schuld tragen

Halb Europa eröffnet die Jagd auf die Ungeimpften. Angesichts der völligen Verunsicherung und der Unfähigkeit, diese Krise gemeinsam zu bekämpfen, bekämpft man jetzt eben die Ungeimpften.

Wir brauchen heute Empathie und Zuwendung und nicht etwa die Hassreden unfähiger Politiker. Foto: Arini izzati / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Ein Wochenende mit vielen Ankündigungen neuer „Maßnahmen“, die alle eines gemeinsam haben – sie werden nicht funktionieren. Deutschland erklärt Frankreich und Dänemark zu „Hochinzidenz-Zonen mit Präsenz von Varianten“ und verhängt eine Quarantäne für Reisende aus diesen Ländern, aber natürlich nur für Ungeimpfte. Frankreich kündigt an, den „Sanitärpass“ in einen „Impfpass“ umzuwandeln. Großbritannien wird neue Einschränkungen verhängen müssen. Es hagelt an Empfehlungen, wie man sich über die Feiertage verhalten soll. Und kurz vor Ankunft der „Omikron“-Welle ist bereits heute klar, dass alle diese hektisch verhängten Maßnahmen gar nicht mehr dazu dienen, eine weltweite Pandemie einzudämmen, sondern nur noch, ungeimpfte Menschen zu Sündenböcken für die Gesamtsituation abzustempeln und zu bestrafen. Außer einer noch tieferen Spaltung der Gesellschaft und einer weiteren Radikalisierung der Impfgegner wird das alles aber nichts bringen.

Die Sozialen Netzwerke kochen über. Es wird nicht mehr diskutiert (worüber auch? Die Pandemie-Experten der Sozialen Netzwerke tauschen ohnehin nur noch Beleidigungen und Slogans aus, was wenig verwunderlich ist, da niemand mehr durchblickt), offener Hass schlägt in beide Richtungen. Dieser Hass ist erklärbar, denn er ermöglicht, seine eigene Position zu stärken. Die Anderen sind die Idioten, Staatsfeinde, Schafe, während man sich selbst in der angenehmen „Sicherheit“ wiegt, die Situation zu verstehen. Nur – auf das pandemische Geschehen wird dieser Hass keine Auswirkung haben.

Dritte Dosis, vierte Dosis, zwanzigste Dosis, unterschiedliche Gutachten und „Experten-Meinungen“, die von „schützt euch selbst und schützt die anderen“ bis zu „dreifach geimpfte Menschen sind gegen ‘Omikron’ schlechter geschützt als nicht geimpfte Personen“ (und natürlich die jeweils diametral entgegengesetzten „Experten-Meinungen“) – es ist normal, dass sich niemand mehr in dieser Kakophonie zurechtfindet.

Aber leider muss das jeder Einzelne. Die Pandemie ist eine Entwicklung, zu der sich jeder Einzelne verhalten muss, man kann das Thema nicht einfach ausblenden. Kann man die zahlreichen anderen Krisen dieser Welt noch verdrängen, bestimmt die Pandemie unser Leben. Niemand kann uns zwingen, beim Verlassen des Hauses an den Konflikt an der ukrainischen Grenze zu denken, aber es ist unmöglich, das Haus zu verlassen, ohne zu prüfen, ob man Gesichtsmaske (und Gel und anderes) dabei hat. Niemand kann uns zwingen, beim Gang durch die Stadt an den nächsten Wahlkampf zu denken, doch niemand kann mehr durch die Stadt gehen, ohne die sanitären Vorschriften einzuhalten oder bewußt zu ignorieren. Die Pandemie hat die Kontrolle über unser tägliches Leben übernommen.

Dabei ist die Kommunikation der Entscheidungsträger mittlerweile so schlecht, dass sie nicht mehr nachvollziehbar ist, außer in einem Punkt: Die Schuld an allem haben die nicht geimpften Personen. Und die müssen jetzt bestraft werden. Indem man sie zu rechtlosen Parias macht. Sie aus der Gesellschaft verbannt. Denn – irgendjemand muss ja die Schuld tragen und da die Schuld für das Geschehen auf keinen Fall am jämmerlichen Management dieser Krise liegen darf, sind eben die Ungeimpften verantwortlich.

Aber zum Glück gibt es ja die dritte Dosis. Den „Pieks“, der alles regelt. Die dritte Dosis, so heißt es, ist viel besser als die ersten beiden und bietet einen maximalen Schutz. Dass inzwischen ein französischer Regionalrat stolz den Screenshot seines Termins für die 4. Dosis (!) im Februar 2022 veröffentlicht, ist ein Paradebeispiel für die katastrophale Kommunikation der Regierungen. Wenn diese dritte Dosis mehr oder weniger alle Probleme lösen soll, wieso ist dann im Februar schon die 4. Dosis erforderlich? Viel schlechtere Werbung für die dritte Dosis als den Termin für die vierte Dosis kann man eigentlich nicht machen. Wenn dieser Regionalrat bereits heute seinen Termin für die 4. Dosis veröffentlicht, bedeutet das nichts anderes, als dass die dritte Dosis ebenso viel Wirkung haben wird wie die ersten beiden.

Erstaunlich, mit welcher Freude die Politiker jetzt ankündigen, dass es „für Ungeimpfte jetzt richtig unangenehm“ wird. So redet wenigstens niemand mehr darüber, wie unglaublich schlecht die Regierungen diese Krise managen. Wie kann es sein, dass man in Frankreich den Ungeimpften den Kampf ansagt, aber gleichzeitig Superspreader-Events wie Weihnachtsmärkte und Fußballspiele in proppenvollen Stadien erlaubt?

Nach wie vor bleibt, dass sich sämtliche Regierungen als vollkommen unfähig erweisen, diese Krise zu bekämpfen. Ebenfalls bleibt festzuhalten, dass diese Pandemie einem dumpfen Nationalismus Vorschub leistet, was sich unter anderem darin äußert, dass man sich seit zwei Jahren weigert, diese Krise gemeinsam zu bekämpfen. Im kleinen Europa mit seinen vielen Grenzen herrschen alle paar Kilometer völlig unterschiedliche Regeln, die sich häufig gegenseitig aufheben und dazu führen, dass keine der Restriktionen die geringste Aussicht auf Erfolg haben. Nur – diese Erkenntnis führt nicht etwa dazu, dass man sich auf europäischer Ebene entschließt, die Maßnahmen inhaltlich, geographisch und zeitlich zu harmonisieren, im Gegenteil, die Regierungen überschlagen sich mit sinnlosen Maßnahmen, die alle nur unter der Überschrift „Repression und Totalüberwachung“ stehen, aber nichts mehr mit der eigentlichen Bekämpfung der Pandemie zu tun haben.

Diese Katastrophe dauert nun seit zwei Jahren an. Das Ergebnis des nationalen, regionalen und manchmal sogar lokalen Herumgestümpers ist, dass wir heute die schwersten „Wellen“ seit Beginn der Pandemie erleben. Wie man sich das als Politiker als „Erfolg“ auf die Fahne schreiben kann, ist unverständlich.

Mag sein, dass die 3., 4. oder 27. Impfdosis mit Produkten, die bestenfalls einen individuellen Schutz bieten, zu den Dingen gehört, mit denen man die Pandemie bekämpfen kann. In vielen Ländern hat man verstanden, dass auch das Beibehalten der sanitären Gesten und die Beschränkung von Kontakten zu diesen Elementen einer Anti-Covid-Strategie gehört. Aber warum ist es so schwer zu verstehen, dass wenn alle paar Kilometer andere Regeln herrschen, eine effektive Bekämpfung dieser Pandemie nicht möglich ist?

In praktisch allen europäischen Ländern muss man jetzt sehr aufpassen. Die autoritären Regierungen treffen nicht etwa die Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Pandemie erforderlich sind, sondern haben sich darauf verständigt, lediglich die Schuld an diesem Geschehen einer Minderheit der Gesellschaft in die Schuhe zu schieben. Was passiert, wenn autoritäre Regierungen Minderheiten zu Sündenböcken abstempeln, hat uns die Geschichte anhand vieler, trauriger Beispiele gelehrt. Früher oder später wird es gelingen, diese Pandemie in den Griff zu bekommen. Aber wie bekommen wir durchgeknallte Politiker in den Griff, die unsere Gesellschaften auf Jahre hinaus so tief spalten, um von ihrem eigenen Versagen abzulenken? Die größte Gefahr in den kommenden Jahren werden nicht Viren sein, sondern Politiker, denen wir erlauben, die Menschen gegeneinander aufzuhetzen.

Und nochmal zum Mitschreiben: Ohne eine europäische Harmonisierung der Maßnahmen werden wir keine Chance haben, gegen diese Pandemie vorzugehen. Setzt euch gefälligst an den Tisch mit den europäischen Partnern und erarbeitet eine europäische Strategie, als uns weiter mit Aussagen wie „Gesundheit liegt in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten“, „da sprechen versicherungstechnische Gründe dagegen“, „das ist in den Verwaltungs-Prozeduren nicht vorgesehen“ hinters Licht zu führen. Europa muss JETZT handeln. Statt den Hass auf Minderheiten zu schüren. Was ist daran bittesehr so schwer zu begreifen?

2 Kommentare zu Irgendjemand muss ja die Schuld tragen

  1. Herr Littmann, nehmen wir nur mal ganz kurz an, das Handeln wäre europaweit synchron: Welche Maßnahmen würden Sie dann konkret ergreifen wollen? Mir fällt da gerade nichts mehr ein.

    Eine Einschränkung: Corona Erkrankte berichten von heftigen und unangenehmen Dingen. Einfach Laufen lassen is also nicht..

    • Es gibt eine ganze Menge Dinge, die man harmonisieren könnte. Speziell in den Grenzregionen, wo man alles daran setzt, dass dieses Virus weiter zirkulieren kann. Denkbar sind Abstimmungen wie geographische Isolierungen, gemeinsames Management von Ressourcen, gemeinsame Restriktionen wie Zutritt zu Vezranstaltungen (in Freiburg dürfen 750 Zuschauer beim SC dabei sein, in Strasbourg 25.000), eine Abstimmung zu Fragen wie Öffnung oder Schliessung von Geschäften, Abstimmung zu Fragen wie Lockdowns oder Ausgangssperren und so weiter. Nehmen Sie das Beispiel Niederlande. Voller Lockdown, aber Mobilität – von egal welchem Ort in den Niederlanden erreicht man in 2 Stunden mit dem Auto das Ausland. Was glauben Sie, wohin die Holländer bis zum 14. Januar einkaufen fahren…

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