Ist „Big Brother“ am Ende doch Europäer?

Mit der „E-Evidence-Verordnung“ will die EU einen großen Coup landen und Internet-Kriminalität wirkungsvoller bekämpfen. Leider verwandelt sie dabei Europa in einen Überwachungs-Kontinent.

Big Brother liest alles mit. Das ist das Ende individueller Freiheiten - George Orwell hatte also Recht. Foto: Silvision / Wikimedia Commons / CC-BY 2.0

(KL) – Am Ende des Tages wird es eine Güterabwägung werden. Was ist höher zu bewerten – die schnelle Strafverfolgung bei Straftaten im Internet oder die letzten Reste individueller Freiheiten, die gerade Schritt für Schritt im globalen IT-Land abgebaut werden? Die EU will sich für die erste Option entscheiden und Europa wird mehr und mehr zu einem vollständig überwachten Kontinent. Ob das der richtige Weg in die Zukunft ist, bleibt fraglich.

Dass es im Internet, ebenso wie in der „freien Wildbahn“, zu Straftaten kommt, ist eine bekannte Tatsache. Dass dieser virtuelle Raum, der sich weder an Landesgrenzen, noch an andere Regeln hält, irgendwie reguliert werden muss, ist ebenfalls klar. Doch eine europaweite Totalüberwachung aller Internet-Nutzer kann nicht der richtige Weg sein – denn zum einen wird auch diese Überwachung die Sicherheit kaum erhöhen, dafür wird sie aber individuelle Rechte abschaffen, für die jahrzehntelang gekämpft wurde.

Zukünftig ist geplant, dass die Ermittlungsbehörden ALLER EU-Staaten direkten Zugriff auf Chatverläufe, E-Mails und in der Cloud befindliche Dokumente bekommen sollen, gleich, in welchem Land diese physisch gespeichert sind. Klar, das bedeutet, dass Beweismittel in kürzester Zeit und auf schnellem Amtsweg gesichert werden können, gleichzeitig bedeutet das aber auch, dass alle EU-Staaten direkten Zugriff auf praktisch alle persönlichen Daten aller Bürgerinnen und Bürger der EU erhalten. Und genau das ist mehr als problematisch.

Wir leben in einer Zeit, in der mehr und mehr Länder, auch in Europa, nach rechtsaußen abdriften und versuchen, ihre Bürgerinnen und Bürger so zu erfassen, dass man künftig Proteste und alleine schon die Äußerung abweichender politischer Meinungen von staatlicher Seite her unterbinden kann. Ob es sich nun um das französische „Anti-Randalierer-Gesetz“ handelt, mit dem das Recht auf Demonstrationsfreiheit aus den Händen der Justiz in die Hände der Verwaltung und damit der Regierung gelegt wurde, ob es um die vielen Länder geht, die gerade laut darüber nachdenken, ob man Flüchtlinge nicht in Lagern konzentrieren sollte, ob es um die Kooperationen von Ländern wie Bulgarien mit ihrer Nachbarin, der Türkei geht – die Vorstellung, dass jede Polizeibehörde jedes europäischen Landes praktisch jede Information zu jedem Bürger und jeder Bürgerin abfragen kann, diese Vorstellung ist beunruhigend.

Natürlich werden jetzt die Verfechter dieser Totalüberwachung das ewig alte Argument anführen, dass jemand, der sich nichts vorzuwerfen hat, auch keine Sorge vor Totalüberwachung haben muss, doch dieses Argument ist schlicht falsch. Die geplante Totalüberwachung ist das Ende persönlicher Freiheiten und das gewünschte Ziel, nämlich dass grenzüberschreitende Ermittlungen schneller und effizienter erfolgen können, lässt sich auch anders erreichen, als durch die Beschneidung von individuellen Freiheiten.

„Bislang braucht es bis zu 10 Monaten, bis eine grenzüberschreitende Anfrage nach Unterstützung in der Ermittlungsarbeit vom jeweilig anderen Land beantwortet wird“, beklagen sich hohe Polizeifunktionäre. Das ist natürlich nicht akzeptabel, doch um die Arbeit der Polizeibehörden effizienter zu gestalten, ist es nicht unbedingt erforderlich, den ganzen Kontinent in einen riesigen Überwachungsstaat zu verwandeln. Die Damen und Herren Beamten in den Polizeibehörden könnten ja auch einfach schneller auf die Anfragen der Kollegen und Kolleginnen aus anderen Ländern reagieren – es gibt kein Gesetz, das Polizeibehörden dazu zwingt, solche Anfragen schlafmützig Monate lang liegen zu lassen.

Und die EU unterwirft sich auch der NSA. - Dazu will die EU ein vergleichbares Abkommen mit den USA aushandeln, damit die amerikanischen Behörden wie beispielsweise die NSA, ungehinderten Zugriff auf die personenbezogenen Daten aller europäischen Bürgerinnen und Bürger hat. Warum nicht gleich den Zugriff für die russischen, chinesischen und saudischen Behörden öffnen? Oder für den nordkoreanischen Geheimdienst? Oder Daesh?

Praktischerweise sehen die Vorhaben der EU (und auch der USA) vor, den Rechtsweg von vornherein auszuschließen. Das ist sehr sinnvoll, denn es verhindert, dass aufmüpfige Bürgerinnen und Bürger gegen den Ausverkauf individueller Rechte klagen. Dass damit auch das Konzept des Rechtsstaats abgeschafft wird, dürfte als Kollateralschaden abgetan werden.

In einer Situation, in der die EU selbst die Rechtsstaatlichkeit der Justiz verschiedener europäischer Länder kritisiert (Polen, Ungarn etc.), ist es ein Unding, deren Behörden den freien Zugriff auf alle Daten aller europäischer Bürgerinnen und Bürger zu öffnen.

In vielen Bereichen ist die Arbeit der EU ineffizient, chaotisch und im intergouvernementalen Format wie gelähmt. Doch wenn sich die EU einmal richtig in Bewegung setzt, dann kommt so etwas dabei heraus. Und dann fragt man sich in Brüssel, Straßburg und Luxemburg, warum die Bürgerinnen und Bürger Europas dieses EU-Konstrukt nicht mehr sexy finden? Alles Gerede im Wahlkampf für die Europawahl war überflüssig – die EU macht genau dort weiter, wo sie aufgehört hat und ist offenbar unfähig, sich selbst eine neue Richtung zu geben. Doch mit Projekten wie der europaweiten Totalüberwachung gibt die EU denjenigen Recht, die sie abschaffen wollen. Hoffentlich sitzen im neuen Europäischen Parlament genug vernünftige Köpfe, die den Brüsseler Verfechtern dieses Techno-Totalitarismus einen Riegel vorschieben können. Denn ansonsten schafft sich die EU am Ende selber ab.

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