Ist WM-Schauen ein revolutionärer Akt?

Offenbar haben die WM-Zuschauer doch ein schlechtes Gewissen. Denn ihre Begründungen, warum es so wichtig sei, diese WM anzuschauen, werden immer abenteuerlicher.

Wer WM schauen will, soll das tun. Aber ohne diese seltsamen Rechtfertigungen... Foto: Marcello Casal / Jr/ABr / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0br

(KL) – Sie boykottieren die Skandal-WM in Qatar? Dann werden Sie es in den Sozialen Netzwerken und bei Diskussionen mit WM-Zuschauern schwer haben, denn diese präsentieren inzwischen ein Reihe von Argumenten FÜR diese WM, die geradezu haarsträubend sind.

Wer die WM boykottiert, immerhin 55 % der Bundesbürger (von denen sich allerdings rund die Hälfte gar nicht für Fußball interessiert), der muss sich ab sofort dem Vorwurf der „Arabophobie“ stellen. Denn, so der Vorwurf, man kritisiere diese WM ja nur, weil man etwas gegen Araber habe und die WM in einem arabischen Land stattfindet. Was bedeutet, dass WM-Boykotteure bereits im Dunstkreis von Rechtsextremen unterwegs sind. Im Umkehrsschluss bedeutet das auch, dass das Anschauen von WM-Spielen ein revolutionärer Akt ist, der das Zusammenleben mit der arabischstämmigen Bevölkerung befördert. Aha.

Wer hier noch Antworten parat hat, der muss sich dann anhören, dass bei dieser WM ja auch europäische Unternehmen beteiligt waren und Geld verdient haben und vielleicht sogar den eigenen Arbeitsplatz gesichert haben. Wer also die WM boykottiert, der schädigt unsere Wirtschaft und wird damit zu einer Art Nestbeschmutzer. Während die WM-Zuschauer durch ihre Präsenz vor dem Fernseher die Wirtschaft bei uns retten. Aha.

Doch das Lieblings-Argument der WM-Zuschauer lautet, dass sich durch die WM in Qatar die Lebens- und Arbeitsbedingungen in Qatar deutlich verbessern würden. So wurde das Sklaven-System „Kafala“ offiziell und per Gesetz 2016 abgeschafft, nachdem mehrere NGOs dies kritisiert hatten. Dazu hat das Land tatsächlich einen Mindestlohn eingeführt, wie die WM-Zuschauer stolz erklären. Was sie allerdings vergessen zu sagen, ist dass es in Qatar keinerlei Instanz gibt, die Verstöße gegen das „Kafala-System“ untersucht oder gar ahndet, weswegen es munter weiterläuft, nur eben ein wenig versteckter. Und der Mindestlohn für ausländische Arbeiter wurde in Qatar, wo der Durchschnittsverdienst für Qatari bei 30.000 € im Monat liegt (bei kostenloser Bereitstellung von Baugrund und der ebenfalls kostenlosen Bereitstellung der Grundnahrungsmittel) bei 230 $ im Monat. Dazu gewähren die Qatari in ihrer Großzügigkeit einen Essen- und Wohnzuschuss von 70 bis 115 Euro pro Monat. Dadurch kommen die jetzt ach so gut behandelten ausländischen Arbeitnehmer auf einen Tageslohn von 9,58 €, bei einer Sechs-Tage-Woche. Aber wenigstens sind die WM-Zuschauer damit zufrieden.

Dass jemand WM schauen möchte, das kann man nachvollziehen. Nur sollten die WM-Zuschauer bitteschön aufhören, dies als einen solidarischen Akt mit den Arbeits-Sklaven in Qatar zu verkaufen. Noch nie haben sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung nach sportlichen Großveranstaltungen verbessert, nicht in Russland, nicht in China und nicht in Südafrika, um nur diese zu nennen. Und auch in Qatar wird sich nach der WM nichts an der Lage der ausländischen Arbeits-Sklaven ändern.

Es ist OK, wenn jemand Fußball schauen will. Es ist aber keineswegs so, dass man deshalb diejenigen, die diese WM boykottieren, als potentiell rechtsextrem und ausländerfeindlich diffamieren muss, um beim Zuschauen bei Chips und Bier ein gutes Gewissen zu haben.

Aber die Beschimpfungen und abstrusen Argumentationen der WM-Zuschauer zeigen vor allem, dass dieser Teil der Bevölkerung offenbar ein Bedürfnis verspürt, sich zu rechtfertigen. Und da es eigentlich außer der eigenen Lust zum WM-Schauen kein echtes Argument dafür gibt, werden nun eben die WM-Boykotteure beschimpft.

Man darf gespannt sein, mit welcher Argumentation die WM-Zuschauer die anstehende Wiederwahl von FIFA-Chef Gianni Infantino rechtfertigen werden. Aber bis es soweit ist, fällt den WM-Zuschauern sicher etwas ein. Vielleicht weil Infantino die „beste WM aller Zeiten“ organisiert hat?

2 Kommentare zu Ist WM-Schauen ein revolutionärer Akt?

  1. Das Ganze zeigt doch wieder nur einmal mehr, dass gesellschaftliche Grundnormen zunehmend ausgehebelt werden. Was hat diese WM in Katar noch mit Fußball zu tun? Zum Glück gibt es Mediatheken, dann haben wir wenigstens Alternativprogramme.

    Die Europäer hätten geschlossen boykottieren und das “Infant terrible” zum Mond schießen müssen. Eine Schande, dieser Schweizer.

    • Da sind wir einer Meinung. Und die Vorstellung, dass dieses “infant terrible” ohne Gegenkandidaten wieder an die Spitze der FIFA gewählt werden wird… dabei ist die Rolle der nationalen Verbände genauso jämmerlich.

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